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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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den individuellen Fall auf Regeln zu beziehen. Würde die Strenge dieser
Methode auf alle Zweige des Wissens ausgedehnt, würde' der Schüler überall
streng darauf hingewiesen, zu unterscheiden zwischen dem, was er weiß, und
dem. was er nicht weiß, zwischen dem, was er begreift, und was er nicht be¬
greift, zwischen dem, was er durch Kunstfertigkeit in sichern Besitz ungewan-
delt hat, und dem. was ihm nur in dunklen Umrissen vorschwebt, so würde nichts
zu wünschen übrig bleiben. Dies ist in der That der Punkt, von dem Stif¬
ter ausgeht: ein richtiger Ausgang, nur daß freilich der Scharfsinn der Re¬
flexion noch nicht den Künstler macht.

Stifter beginnt damit, die Aufmerksamkeit nach allen Seiten hin zu
schärfen, ja sie zur Andacht zu steigern. Er wendet dazu zwei Mittel an.
Die Zerstreutheit unseres Denkens liegt zum Theil in den unklaren d. h.'un-
aufgelösten Begriffen, mit denen wir operiren. als hätten wir darin einen
sichern Besitz, mit andern Worten in der Gewohnheit der Abstraction und
Verallgemeinerung. Stifter bemüht sich nun zunächst, aus seiner Sprache wie
aus seiner Anschauung jede Abstraction zu verbannen, er gibt stets das sinn¬
liche Bild. Sodann zerlegt er die allgemeinen Vorstellungen in ihm bekannte
d. h. in einzelne sinnliche Anschauungen, die in einer bestimmten Folge neben¬
einandergestellt werden, während man in der gewöhnlichen Sprache nur das
dürftige Resultat derselben besitzt. Um dies in klarer Folge zu thun, wendet
er die genetische Methode an. und wie ein guter Lehrer der Mathematik Fi¬
gur nach Figur dem Schüler vor Augen bringt, ihn aus die Entstehung der¬
selben aufmerksam macht, und ihn nicht eher entläßt, als bis er das System
des Euklid in seinem Geist reproduciren kann, so macht es Stifter nicht blos
bei seinen Deductionen, sondern much bei seiner Erzählung. Unsere Sprach¬
verwirrung hat ihren Grund hauptsächlich darin, daß man überall eine Menge
Voraussetzungen macht, bei denen man annimmt, alle Welt sei einig darüber,
während doch die Einigkeit nur in den Worten liegt. Stifter stellt dagegen
an den Dichter wie an den Erzieher die Anforderung, gar keine Voraussetzung
zu machen, gewissermaßen so zu referiren, als wollte man auch einem Neusee¬
länder verständlich werden, der Deutsch versteht.

Hierin liegt nun freilich die Romantik in Stifters Borhaben: es gibt
keinen Neuseeländer, der Deutsch versteht, denn die deutsche Sprache, Wörter¬
buch und Syntax, ist das Resultat einer Culturcntwicklung, die man mit der
Sprache zugleich überkommt. Es ist nicht möglich, den Knaben in der deut¬
schen Sprache so zu erziehn, wie einen Wilden, dem man die deutsche Sprache
beibringen wollte, und es ist falsch, für ein deutsches Publicum so zu schrei¬
ben, mis lMtx es Schiller und Goethe noch^nicht gelesen. An einem bestimmten
Beispiel lußt ^r Irrthum deutlich machen.

Im ersten Band S. 2S7 ff. erzählt der Autvbiograph. wie er zum


den individuellen Fall auf Regeln zu beziehen. Würde die Strenge dieser
Methode auf alle Zweige des Wissens ausgedehnt, würde' der Schüler überall
streng darauf hingewiesen, zu unterscheiden zwischen dem, was er weiß, und
dem. was er nicht weiß, zwischen dem, was er begreift, und was er nicht be¬
greift, zwischen dem, was er durch Kunstfertigkeit in sichern Besitz ungewan-
delt hat, und dem. was ihm nur in dunklen Umrissen vorschwebt, so würde nichts
zu wünschen übrig bleiben. Dies ist in der That der Punkt, von dem Stif¬
ter ausgeht: ein richtiger Ausgang, nur daß freilich der Scharfsinn der Re¬
flexion noch nicht den Künstler macht.

Stifter beginnt damit, die Aufmerksamkeit nach allen Seiten hin zu
schärfen, ja sie zur Andacht zu steigern. Er wendet dazu zwei Mittel an.
Die Zerstreutheit unseres Denkens liegt zum Theil in den unklaren d. h.'un-
aufgelösten Begriffen, mit denen wir operiren. als hätten wir darin einen
sichern Besitz, mit andern Worten in der Gewohnheit der Abstraction und
Verallgemeinerung. Stifter bemüht sich nun zunächst, aus seiner Sprache wie
aus seiner Anschauung jede Abstraction zu verbannen, er gibt stets das sinn¬
liche Bild. Sodann zerlegt er die allgemeinen Vorstellungen in ihm bekannte
d. h. in einzelne sinnliche Anschauungen, die in einer bestimmten Folge neben¬
einandergestellt werden, während man in der gewöhnlichen Sprache nur das
dürftige Resultat derselben besitzt. Um dies in klarer Folge zu thun, wendet
er die genetische Methode an. und wie ein guter Lehrer der Mathematik Fi¬
gur nach Figur dem Schüler vor Augen bringt, ihn aus die Entstehung der¬
selben aufmerksam macht, und ihn nicht eher entläßt, als bis er das System
des Euklid in seinem Geist reproduciren kann, so macht es Stifter nicht blos
bei seinen Deductionen, sondern much bei seiner Erzählung. Unsere Sprach¬
verwirrung hat ihren Grund hauptsächlich darin, daß man überall eine Menge
Voraussetzungen macht, bei denen man annimmt, alle Welt sei einig darüber,
während doch die Einigkeit nur in den Worten liegt. Stifter stellt dagegen
an den Dichter wie an den Erzieher die Anforderung, gar keine Voraussetzung
zu machen, gewissermaßen so zu referiren, als wollte man auch einem Neusee¬
länder verständlich werden, der Deutsch versteht.

Hierin liegt nun freilich die Romantik in Stifters Borhaben: es gibt
keinen Neuseeländer, der Deutsch versteht, denn die deutsche Sprache, Wörter¬
buch und Syntax, ist das Resultat einer Culturcntwicklung, die man mit der
Sprache zugleich überkommt. Es ist nicht möglich, den Knaben in der deut¬
schen Sprache so zu erziehn, wie einen Wilden, dem man die deutsche Sprache
beibringen wollte, und es ist falsch, für ein deutsches Publicum so zu schrei¬
ben, mis lMtx es Schiller und Goethe noch^nicht gelesen. An einem bestimmten
Beispiel lußt ^r Irrthum deutlich machen.

Im ersten Band S. 2S7 ff. erzählt der Autvbiograph. wie er zum


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[0173] den individuellen Fall auf Regeln zu beziehen. Würde die Strenge dieser Methode auf alle Zweige des Wissens ausgedehnt, würde' der Schüler überall streng darauf hingewiesen, zu unterscheiden zwischen dem, was er weiß, und dem. was er nicht weiß, zwischen dem, was er begreift, und was er nicht be¬ greift, zwischen dem, was er durch Kunstfertigkeit in sichern Besitz ungewan- delt hat, und dem. was ihm nur in dunklen Umrissen vorschwebt, so würde nichts zu wünschen übrig bleiben. Dies ist in der That der Punkt, von dem Stif¬ ter ausgeht: ein richtiger Ausgang, nur daß freilich der Scharfsinn der Re¬ flexion noch nicht den Künstler macht. Stifter beginnt damit, die Aufmerksamkeit nach allen Seiten hin zu schärfen, ja sie zur Andacht zu steigern. Er wendet dazu zwei Mittel an. Die Zerstreutheit unseres Denkens liegt zum Theil in den unklaren d. h.'un- aufgelösten Begriffen, mit denen wir operiren. als hätten wir darin einen sichern Besitz, mit andern Worten in der Gewohnheit der Abstraction und Verallgemeinerung. Stifter bemüht sich nun zunächst, aus seiner Sprache wie aus seiner Anschauung jede Abstraction zu verbannen, er gibt stets das sinn¬ liche Bild. Sodann zerlegt er die allgemeinen Vorstellungen in ihm bekannte d. h. in einzelne sinnliche Anschauungen, die in einer bestimmten Folge neben¬ einandergestellt werden, während man in der gewöhnlichen Sprache nur das dürftige Resultat derselben besitzt. Um dies in klarer Folge zu thun, wendet er die genetische Methode an. und wie ein guter Lehrer der Mathematik Fi¬ gur nach Figur dem Schüler vor Augen bringt, ihn aus die Entstehung der¬ selben aufmerksam macht, und ihn nicht eher entläßt, als bis er das System des Euklid in seinem Geist reproduciren kann, so macht es Stifter nicht blos bei seinen Deductionen, sondern much bei seiner Erzählung. Unsere Sprach¬ verwirrung hat ihren Grund hauptsächlich darin, daß man überall eine Menge Voraussetzungen macht, bei denen man annimmt, alle Welt sei einig darüber, während doch die Einigkeit nur in den Worten liegt. Stifter stellt dagegen an den Dichter wie an den Erzieher die Anforderung, gar keine Voraussetzung zu machen, gewissermaßen so zu referiren, als wollte man auch einem Neusee¬ länder verständlich werden, der Deutsch versteht. Hierin liegt nun freilich die Romantik in Stifters Borhaben: es gibt keinen Neuseeländer, der Deutsch versteht, denn die deutsche Sprache, Wörter¬ buch und Syntax, ist das Resultat einer Culturcntwicklung, die man mit der Sprache zugleich überkommt. Es ist nicht möglich, den Knaben in der deut¬ schen Sprache so zu erziehn, wie einen Wilden, dem man die deutsche Sprache beibringen wollte, und es ist falsch, für ein deutsches Publicum so zu schrei¬ ben, mis lMtx es Schiller und Goethe noch^nicht gelesen. An einem bestimmten Beispiel lußt ^r Irrthum deutlich machen. Im ersten Band S. 2S7 ff. erzählt der Autvbiograph. wie er zum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/173>, abgerufen am 31.05.2024.