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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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man Gott nur als den Schöpfer der Dinge verehrt, und sich freut, daß er
Gräser und Sträuche, Frösche, Schlangen und Molche so schön gemacht, so
ist damit nicht viel gesagt, über diese Dinge kann auch der Atheist sich freu".
Das Gefühl des Göttlichen liegt im Herzen und namentlich im Gewissen,
und dieses ist bei unserm Dichter von einem Ernst und dabei von einer Zart¬
heit, daß man ihn lieben und sein sittliches Princip verehren muß, auch wo
man seine künstlerischen Grundsätze tadelt. In der Theorie verlangt er An¬
dacht für die Natur an sich, in der Praxis hat er aber sür diese Andacht
einen menschlichen Grund: sie ist ihm wichtig a)s Förderung des menschlichen
Geistes. "Die Naturwissenschaften sind uus viel greifbarer als die Wissen¬
schaften der Menschen, wenn ich ja Natur und Menschen gegenüberstellen soll,
weil man die Gegenstände der Natur außer sich hinstellen und betrachten kann,
die Gegenstände der Menschheit aber uns durch uus selbst verhüllt sind. Man
sollte glauben, daß das Gegentheil statthaben solle, daß man sich selbst besser
als Fremdes kennen sollte, viele glauben es auch; aber es ist nicht so. That¬
sachen der Menschheit, ja Thatsachen unseres eignen Innern werden uns
durch Leidenschaft und Eigensucht verborgen gehalten, oder mindestens getrübt"
u. s. w. (S. 342) Ueber die Sache selbst läßt sich streiten, aber das Motiv
geht auf der richtigen Fährte. Der Mensch hat das Recht, sich in seinen Stu¬
dien und seinen Vergnügungen, sich in Wissenschaft und Kunst durch sein
Interesse bestimmen zu lassen; aber freilich wird er nicht blos wie das Thier
durch physische Interessen, sondern durch andere z. B. ästhetische bestimmt,
und so ergibt sich aus einer unbefangene" Naturbeobachtung grade das Gegen¬
theil von dem, was Stifter mitunter in seinen Paradoxien verkündigen möchte,
daß der Mensch zwar nicht außer, aber über der Natur steht. Zum Theil
hängt dieser Grundsatz des Dichters mit seinem Talent zusamme". Er ist
am glänzendsten in der Ausmalung des Lebens in der scheinbar unbelebten
Natur und in der Ausmalung dieser sinnlich einfachen und doch seelenvoll
angeschauter Züge vielleicht in unserer ganzen Literatur unerreicht. Der neue
Roman enthält nicht weniger glückliche Erfindungen nach dieser Seite hin,
als die Studien und bunten Steine. Dazu kommt der schon erwähnte päda¬
gogische Grundsatz, in dem Bildungsgang des Einzelnen das System des
Wissens zu reproduciren, vom Einfachen und Sinnlichen zu beginnen und
zum Zusammengesetzten und Geistigen fortzuschreiten, so. daß, was im Sy¬
stem nebeneinandersteht, sich,in der menschlichen Seele genetisch oder historisch
entwickelt. Wenn Herder und nach seinem Vorgang Hegel mit der Entwick¬
lung des Naturlebens anfängt und die Geschichte darauf folgen läßt, so ist
das ein richtiger Proceß der Lebe"sweisheit, de" Stifter in seinen pädago¬
gischen Winken mit Recht ihnen nachbildet, wenn er ihn auch in Beziehung
auf den gege"würdigen Standpunkt der Bildung zu weit ausdehnt, da doch


man Gott nur als den Schöpfer der Dinge verehrt, und sich freut, daß er
Gräser und Sträuche, Frösche, Schlangen und Molche so schön gemacht, so
ist damit nicht viel gesagt, über diese Dinge kann auch der Atheist sich freu».
Das Gefühl des Göttlichen liegt im Herzen und namentlich im Gewissen,
und dieses ist bei unserm Dichter von einem Ernst und dabei von einer Zart¬
heit, daß man ihn lieben und sein sittliches Princip verehren muß, auch wo
man seine künstlerischen Grundsätze tadelt. In der Theorie verlangt er An¬
dacht für die Natur an sich, in der Praxis hat er aber sür diese Andacht
einen menschlichen Grund: sie ist ihm wichtig a)s Förderung des menschlichen
Geistes. „Die Naturwissenschaften sind uus viel greifbarer als die Wissen¬
schaften der Menschen, wenn ich ja Natur und Menschen gegenüberstellen soll,
weil man die Gegenstände der Natur außer sich hinstellen und betrachten kann,
die Gegenstände der Menschheit aber uns durch uus selbst verhüllt sind. Man
sollte glauben, daß das Gegentheil statthaben solle, daß man sich selbst besser
als Fremdes kennen sollte, viele glauben es auch; aber es ist nicht so. That¬
sachen der Menschheit, ja Thatsachen unseres eignen Innern werden uns
durch Leidenschaft und Eigensucht verborgen gehalten, oder mindestens getrübt"
u. s. w. (S. 342) Ueber die Sache selbst läßt sich streiten, aber das Motiv
geht auf der richtigen Fährte. Der Mensch hat das Recht, sich in seinen Stu¬
dien und seinen Vergnügungen, sich in Wissenschaft und Kunst durch sein
Interesse bestimmen zu lassen; aber freilich wird er nicht blos wie das Thier
durch physische Interessen, sondern durch andere z. B. ästhetische bestimmt,
und so ergibt sich aus einer unbefangene» Naturbeobachtung grade das Gegen¬
theil von dem, was Stifter mitunter in seinen Paradoxien verkündigen möchte,
daß der Mensch zwar nicht außer, aber über der Natur steht. Zum Theil
hängt dieser Grundsatz des Dichters mit seinem Talent zusamme». Er ist
am glänzendsten in der Ausmalung des Lebens in der scheinbar unbelebten
Natur und in der Ausmalung dieser sinnlich einfachen und doch seelenvoll
angeschauter Züge vielleicht in unserer ganzen Literatur unerreicht. Der neue
Roman enthält nicht weniger glückliche Erfindungen nach dieser Seite hin,
als die Studien und bunten Steine. Dazu kommt der schon erwähnte päda¬
gogische Grundsatz, in dem Bildungsgang des Einzelnen das System des
Wissens zu reproduciren, vom Einfachen und Sinnlichen zu beginnen und
zum Zusammengesetzten und Geistigen fortzuschreiten, so. daß, was im Sy¬
stem nebeneinandersteht, sich,in der menschlichen Seele genetisch oder historisch
entwickelt. Wenn Herder und nach seinem Vorgang Hegel mit der Entwick¬
lung des Naturlebens anfängt und die Geschichte darauf folgen läßt, so ist
das ein richtiger Proceß der Lebe»sweisheit, de» Stifter in seinen pädago¬
gischen Winken mit Recht ihnen nachbildet, wenn er ihn auch in Beziehung
auf den gege»würdigen Standpunkt der Bildung zu weit ausdehnt, da doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/176>, abgerufen am 31.05.2024.