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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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langt, daß Forschungen in so niederer und unakademischer Sphäre die immer
nicht unerhebliche Mühe lohnen können. Wie die Sage in Italien eine ver¬
schüttete Fundgrube ist, so der Volksgesang. Dialektschwierigkciten kommen
lMzu, um die Arbeit zu vergrößern, und zwar nicht allein für den Ausländer.
Auch der Römer, auch der Venezianer versteht eine Menge Ausdrücke nicht,
die im Golf von Salerno, auf Capri, in Mola ti Gasta mundgerecht sind.
Der Neapolitaner schüttelt seinerseits nicht minder verlegen den Kopf, wenn
er in die Sprachgeheimnisse der Mailänder, der genueser Plebs eindringen
soll. Was zur Hebung dieses Uebelstandes durch Wörterbücher und Gramma¬
tiker geschehen ist, weist sich bis jetzt als durchaus unzulänglich aus und be¬
lehrt höchstens über den großen Umfang der Abweichungen. Dabei hat jeder
Dialekt sich das Recht des schriftlichen Ausdrucks erobert. Während in den
meisten deutschen Gauen das Hochdeutsche die gewöhnliche Schriftsprache ist
und nur ausnahmsweise das Wort, wie es gesprochen wird, auss Papier
kommt, gibt sich das Volkslied in Italien auch im Druck als Dialektlied und
verwirrt das Auge noch mehr, als das gesprochene Wort das Ohr irre führt.
Eine Menge solcher Lieder werden um der Chiaja, an? Ponte Se. Angelo, an
der Riva bei Schiavoni feilgeboten, einige mit bcigcdrucktcr, andere nur mit
namentlich bezeichneter Singweise, wieder andere ohne allen derartigen Nach¬
weis. Aber die Physiognomie dieses Liedertrödels ist eine so bunte, durch so
massenhafte Kreuz- und Querzüge entstellte, daß es schwer hält, für das end¬
liche Ergebniß einer Nachforschung nach den wesentlichsten Bestandtheilen den.
richtigen Ausdruck zu treffen.

Der Gesang ist eins der Kennzeichen, welches die Natur mit sichtlicher
Parteilichkeit dem Italiener vor allen andern Nationen aufgeprägt hat. Wenn
es wahr ist, daß der Italiener ewig Kind bleibt, und daß nur diejenigen
Kinder, welche bei ihrer Geburt schon ihre Lungen gebrauchten, eine gesunde
Brust und Lebensdauer versprechen, so hat das italienische Volk Aussicht, den
letzten Athemzug später als irgend ein anderes zu thun. In der That gibt
es ^aum ein Alter, das nicht singt, kaum einen Stand, der auf den tönenden
Gebrauch der Stimme verzichtet, kaum einen Raum, der hierzu nicht für taug¬
lich gehalten wird, kaum eine Zeit, die zum Schweigen verurtheilt. Keiner
Mutter fällt es ein. ihrem Kinde Stille zu gebieten, weil das Singen sich
etwa im Zimmer nicht schicke oder weil Besuch da sei. Keine Herrschaft
nimmt es der dienenden Cattina oder Nenctta übel, wenn Trepp auf, Trepp
ab ihr Lied durchs ganze Haus klingt. Niemand findet Unziemliches in dem
lauten Gesang eines Mädchens, das vom Brunnen Wasser oder vom Markt
Gemüse holt. Und wenn der heimkehrende Bettler, nach kläglicher Tages-
vcrrichtung sein Lied singt, reut niemanden der Bajocco, den die trostlose
Bettlergeberde noch kurz zuvor der Tasche des Besitzenden entlockte. Auch das


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langt, daß Forschungen in so niederer und unakademischer Sphäre die immer
nicht unerhebliche Mühe lohnen können. Wie die Sage in Italien eine ver¬
schüttete Fundgrube ist, so der Volksgesang. Dialektschwierigkciten kommen
lMzu, um die Arbeit zu vergrößern, und zwar nicht allein für den Ausländer.
Auch der Römer, auch der Venezianer versteht eine Menge Ausdrücke nicht,
die im Golf von Salerno, auf Capri, in Mola ti Gasta mundgerecht sind.
Der Neapolitaner schüttelt seinerseits nicht minder verlegen den Kopf, wenn
er in die Sprachgeheimnisse der Mailänder, der genueser Plebs eindringen
soll. Was zur Hebung dieses Uebelstandes durch Wörterbücher und Gramma¬
tiker geschehen ist, weist sich bis jetzt als durchaus unzulänglich aus und be¬
lehrt höchstens über den großen Umfang der Abweichungen. Dabei hat jeder
Dialekt sich das Recht des schriftlichen Ausdrucks erobert. Während in den
meisten deutschen Gauen das Hochdeutsche die gewöhnliche Schriftsprache ist
und nur ausnahmsweise das Wort, wie es gesprochen wird, auss Papier
kommt, gibt sich das Volkslied in Italien auch im Druck als Dialektlied und
verwirrt das Auge noch mehr, als das gesprochene Wort das Ohr irre führt.
Eine Menge solcher Lieder werden um der Chiaja, an? Ponte Se. Angelo, an
der Riva bei Schiavoni feilgeboten, einige mit bcigcdrucktcr, andere nur mit
namentlich bezeichneter Singweise, wieder andere ohne allen derartigen Nach¬
weis. Aber die Physiognomie dieses Liedertrödels ist eine so bunte, durch so
massenhafte Kreuz- und Querzüge entstellte, daß es schwer hält, für das end¬
liche Ergebniß einer Nachforschung nach den wesentlichsten Bestandtheilen den.
richtigen Ausdruck zu treffen.

Der Gesang ist eins der Kennzeichen, welches die Natur mit sichtlicher
Parteilichkeit dem Italiener vor allen andern Nationen aufgeprägt hat. Wenn
es wahr ist, daß der Italiener ewig Kind bleibt, und daß nur diejenigen
Kinder, welche bei ihrer Geburt schon ihre Lungen gebrauchten, eine gesunde
Brust und Lebensdauer versprechen, so hat das italienische Volk Aussicht, den
letzten Athemzug später als irgend ein anderes zu thun. In der That gibt
es ^aum ein Alter, das nicht singt, kaum einen Stand, der auf den tönenden
Gebrauch der Stimme verzichtet, kaum einen Raum, der hierzu nicht für taug¬
lich gehalten wird, kaum eine Zeit, die zum Schweigen verurtheilt. Keiner
Mutter fällt es ein. ihrem Kinde Stille zu gebieten, weil das Singen sich
etwa im Zimmer nicht schicke oder weil Besuch da sei. Keine Herrschaft
nimmt es der dienenden Cattina oder Nenctta übel, wenn Trepp auf, Trepp
ab ihr Lied durchs ganze Haus klingt. Niemand findet Unziemliches in dem
lauten Gesang eines Mädchens, das vom Brunnen Wasser oder vom Markt
Gemüse holt. Und wenn der heimkehrende Bettler, nach kläglicher Tages-
vcrrichtung sein Lied singt, reut niemanden der Bajocco, den die trostlose
Bettlergeberde noch kurz zuvor der Tasche des Besitzenden entlockte. Auch das


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[0227] langt, daß Forschungen in so niederer und unakademischer Sphäre die immer nicht unerhebliche Mühe lohnen können. Wie die Sage in Italien eine ver¬ schüttete Fundgrube ist, so der Volksgesang. Dialektschwierigkciten kommen lMzu, um die Arbeit zu vergrößern, und zwar nicht allein für den Ausländer. Auch der Römer, auch der Venezianer versteht eine Menge Ausdrücke nicht, die im Golf von Salerno, auf Capri, in Mola ti Gasta mundgerecht sind. Der Neapolitaner schüttelt seinerseits nicht minder verlegen den Kopf, wenn er in die Sprachgeheimnisse der Mailänder, der genueser Plebs eindringen soll. Was zur Hebung dieses Uebelstandes durch Wörterbücher und Gramma¬ tiker geschehen ist, weist sich bis jetzt als durchaus unzulänglich aus und be¬ lehrt höchstens über den großen Umfang der Abweichungen. Dabei hat jeder Dialekt sich das Recht des schriftlichen Ausdrucks erobert. Während in den meisten deutschen Gauen das Hochdeutsche die gewöhnliche Schriftsprache ist und nur ausnahmsweise das Wort, wie es gesprochen wird, auss Papier kommt, gibt sich das Volkslied in Italien auch im Druck als Dialektlied und verwirrt das Auge noch mehr, als das gesprochene Wort das Ohr irre führt. Eine Menge solcher Lieder werden um der Chiaja, an? Ponte Se. Angelo, an der Riva bei Schiavoni feilgeboten, einige mit bcigcdrucktcr, andere nur mit namentlich bezeichneter Singweise, wieder andere ohne allen derartigen Nach¬ weis. Aber die Physiognomie dieses Liedertrödels ist eine so bunte, durch so massenhafte Kreuz- und Querzüge entstellte, daß es schwer hält, für das end¬ liche Ergebniß einer Nachforschung nach den wesentlichsten Bestandtheilen den. richtigen Ausdruck zu treffen. Der Gesang ist eins der Kennzeichen, welches die Natur mit sichtlicher Parteilichkeit dem Italiener vor allen andern Nationen aufgeprägt hat. Wenn es wahr ist, daß der Italiener ewig Kind bleibt, und daß nur diejenigen Kinder, welche bei ihrer Geburt schon ihre Lungen gebrauchten, eine gesunde Brust und Lebensdauer versprechen, so hat das italienische Volk Aussicht, den letzten Athemzug später als irgend ein anderes zu thun. In der That gibt es ^aum ein Alter, das nicht singt, kaum einen Stand, der auf den tönenden Gebrauch der Stimme verzichtet, kaum einen Raum, der hierzu nicht für taug¬ lich gehalten wird, kaum eine Zeit, die zum Schweigen verurtheilt. Keiner Mutter fällt es ein. ihrem Kinde Stille zu gebieten, weil das Singen sich etwa im Zimmer nicht schicke oder weil Besuch da sei. Keine Herrschaft nimmt es der dienenden Cattina oder Nenctta übel, wenn Trepp auf, Trepp ab ihr Lied durchs ganze Haus klingt. Niemand findet Unziemliches in dem lauten Gesang eines Mädchens, das vom Brunnen Wasser oder vom Markt Gemüse holt. Und wenn der heimkehrende Bettler, nach kläglicher Tages- vcrrichtung sein Lied singt, reut niemanden der Bajocco, den die trostlose Bettlergeberde noch kurz zuvor der Tasche des Besitzenden entlockte. Auch das 28"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/227>, abgerufen am 16.05.2024.