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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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und deutschen Liedern. Ob eins von dem andern borgte, ist schwer nach¬
zuweisen, dem Gefühl nach scheint es nicht ursprünglich italienisch.

Die Dichter der neapolitanischen Lieder neuern Datums sind theils Im¬
provisatoren, theils Straßensünger, hin und wieder auch wirkliche Berufene.
Man liest auf den bessern fliegenden Blättern Namen wie Baron Zezza,
Kavaliere Raffacle Sacco, Pietro Durelli, Battista Collajanni. auf den mehr
dem Gemeinkomischcn gewidmeten dagegen Namen wie Mariello Bonito,
E del Prelle, Agostino Elemente u. a. Auch ein Namensvetter des Dichters
der Gerusalemme liberata, der ja in Sorrent heimisch war, wird genannt:
Totonno Tasso. Die meisten Compositionen sind von Pietro Labriola; sie
haben viel Opernantlänge und gehen fast durchweg im Walzertakt. Die niedrig-
komischen Canzonen enden häufig mit einem Appell an die Börse des Hörers
und mit der Versicherung,, daß des Sängers Kehle der Anfeuchtung bedürfe.

Begreiflicherweise ist bei der zunehmenden Fülle dieser Volkspoesie das
Bedürfniß und der Geschmack für classische Stoffe immer mehr verschwunden.
Dante würde heute nicht mehr dem Schmied sein Geräth auf die Erde zu
werfen brauchen, zornig über die willkürlichen Auslassungen, die sich dieser
beim Singen der göttlichen Komödie erlaubte. Auch kein Eseltreiber würde
ihn mehr durch das den danteschen Terzinen angehängte ^.rrki, ^.i-rin! in
Verzweiflung bringen. Schmied und Eseltreiber, wenn sie nicht gar ünpro-
visiren, haben andere Lieder als die von Hölle und Fegefeuer. Die zärt¬
lichen Schilderungen aus Dantes 1^ Nortv av Lo^iieo sind weniger ver¬
gessen worden und ihnen wie denen Petrarcas entlehnt noch heute der un¬
glücklich Liebende seine poetischen Ausdrücke. Es ist noch immer Petrarcas


Olme it bei ol"o!
Oiinü it MÄVL sguiu'no!
it iLM^lro iiortÄinouto sAero!

was in einer italienischen Liebesklage durchklingt. Die Sprache dichtet schon
von selbst und mit diesem Klangzauber, dem sich ein melodischer Gesang
gesellt, begnügt sich das italienische Ohr. An eine Stimmungseinheit zwischen
Musik und Text wird dabei selten gedacht. Es gibt übersprudelnde Liebes¬
lieder mit der klagendsten Melodie und umgekehrt. Borwiegend heiter sind
die neapolitanischen Lieder, doch taugt das Wort heiter überhaupt nicht sür
italienisches Wesen, und so mag denn das Ueberwiegen der Durtonarten den
Sinn richtiger bezeichnen.

Interessant wäre ein Vergleich zwischen dein in Obigem angedeuteten
jetzigen Zustande der italienischen Volkspoesie und derjenigen anderer südlicher
Nationen, namentlich der spanischen, auch vielleicht, so weit die Sangweise
in Betracht kommt, der Bevölkerung jenseits des Mittelmeers. Das Material
zu einer solchen Arbeit ist leider noch zerstreut und überhaupt das vergleichende


und deutschen Liedern. Ob eins von dem andern borgte, ist schwer nach¬
zuweisen, dem Gefühl nach scheint es nicht ursprünglich italienisch.

Die Dichter der neapolitanischen Lieder neuern Datums sind theils Im¬
provisatoren, theils Straßensünger, hin und wieder auch wirkliche Berufene.
Man liest auf den bessern fliegenden Blättern Namen wie Baron Zezza,
Kavaliere Raffacle Sacco, Pietro Durelli, Battista Collajanni. auf den mehr
dem Gemeinkomischcn gewidmeten dagegen Namen wie Mariello Bonito,
E del Prelle, Agostino Elemente u. a. Auch ein Namensvetter des Dichters
der Gerusalemme liberata, der ja in Sorrent heimisch war, wird genannt:
Totonno Tasso. Die meisten Compositionen sind von Pietro Labriola; sie
haben viel Opernantlänge und gehen fast durchweg im Walzertakt. Die niedrig-
komischen Canzonen enden häufig mit einem Appell an die Börse des Hörers
und mit der Versicherung,, daß des Sängers Kehle der Anfeuchtung bedürfe.

Begreiflicherweise ist bei der zunehmenden Fülle dieser Volkspoesie das
Bedürfniß und der Geschmack für classische Stoffe immer mehr verschwunden.
Dante würde heute nicht mehr dem Schmied sein Geräth auf die Erde zu
werfen brauchen, zornig über die willkürlichen Auslassungen, die sich dieser
beim Singen der göttlichen Komödie erlaubte. Auch kein Eseltreiber würde
ihn mehr durch das den danteschen Terzinen angehängte ^.rrki, ^.i-rin! in
Verzweiflung bringen. Schmied und Eseltreiber, wenn sie nicht gar ünpro-
visiren, haben andere Lieder als die von Hölle und Fegefeuer. Die zärt¬
lichen Schilderungen aus Dantes 1^ Nortv av Lo^iieo sind weniger ver¬
gessen worden und ihnen wie denen Petrarcas entlehnt noch heute der un¬
glücklich Liebende seine poetischen Ausdrücke. Es ist noch immer Petrarcas


Olme it bei ol«o!
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it iLM^lro iiortÄinouto sAero!

was in einer italienischen Liebesklage durchklingt. Die Sprache dichtet schon
von selbst und mit diesem Klangzauber, dem sich ein melodischer Gesang
gesellt, begnügt sich das italienische Ohr. An eine Stimmungseinheit zwischen
Musik und Text wird dabei selten gedacht. Es gibt übersprudelnde Liebes¬
lieder mit der klagendsten Melodie und umgekehrt. Borwiegend heiter sind
die neapolitanischen Lieder, doch taugt das Wort heiter überhaupt nicht sür
italienisches Wesen, und so mag denn das Ueberwiegen der Durtonarten den
Sinn richtiger bezeichnen.

Interessant wäre ein Vergleich zwischen dein in Obigem angedeuteten
jetzigen Zustande der italienischen Volkspoesie und derjenigen anderer südlicher
Nationen, namentlich der spanischen, auch vielleicht, so weit die Sangweise
in Betracht kommt, der Bevölkerung jenseits des Mittelmeers. Das Material
zu einer solchen Arbeit ist leider noch zerstreut und überhaupt das vergleichende


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[0240] und deutschen Liedern. Ob eins von dem andern borgte, ist schwer nach¬ zuweisen, dem Gefühl nach scheint es nicht ursprünglich italienisch. Die Dichter der neapolitanischen Lieder neuern Datums sind theils Im¬ provisatoren, theils Straßensünger, hin und wieder auch wirkliche Berufene. Man liest auf den bessern fliegenden Blättern Namen wie Baron Zezza, Kavaliere Raffacle Sacco, Pietro Durelli, Battista Collajanni. auf den mehr dem Gemeinkomischcn gewidmeten dagegen Namen wie Mariello Bonito, E del Prelle, Agostino Elemente u. a. Auch ein Namensvetter des Dichters der Gerusalemme liberata, der ja in Sorrent heimisch war, wird genannt: Totonno Tasso. Die meisten Compositionen sind von Pietro Labriola; sie haben viel Opernantlänge und gehen fast durchweg im Walzertakt. Die niedrig- komischen Canzonen enden häufig mit einem Appell an die Börse des Hörers und mit der Versicherung,, daß des Sängers Kehle der Anfeuchtung bedürfe. Begreiflicherweise ist bei der zunehmenden Fülle dieser Volkspoesie das Bedürfniß und der Geschmack für classische Stoffe immer mehr verschwunden. Dante würde heute nicht mehr dem Schmied sein Geräth auf die Erde zu werfen brauchen, zornig über die willkürlichen Auslassungen, die sich dieser beim Singen der göttlichen Komödie erlaubte. Auch kein Eseltreiber würde ihn mehr durch das den danteschen Terzinen angehängte ^.rrki, ^.i-rin! in Verzweiflung bringen. Schmied und Eseltreiber, wenn sie nicht gar ünpro- visiren, haben andere Lieder als die von Hölle und Fegefeuer. Die zärt¬ lichen Schilderungen aus Dantes 1^ Nortv av Lo^iieo sind weniger ver¬ gessen worden und ihnen wie denen Petrarcas entlehnt noch heute der un¬ glücklich Liebende seine poetischen Ausdrücke. Es ist noch immer Petrarcas Olme it bei ol«o! Oiinü it MÄVL sguiu'no! it iLM^lro iiortÄinouto sAero! was in einer italienischen Liebesklage durchklingt. Die Sprache dichtet schon von selbst und mit diesem Klangzauber, dem sich ein melodischer Gesang gesellt, begnügt sich das italienische Ohr. An eine Stimmungseinheit zwischen Musik und Text wird dabei selten gedacht. Es gibt übersprudelnde Liebes¬ lieder mit der klagendsten Melodie und umgekehrt. Borwiegend heiter sind die neapolitanischen Lieder, doch taugt das Wort heiter überhaupt nicht sür italienisches Wesen, und so mag denn das Ueberwiegen der Durtonarten den Sinn richtiger bezeichnen. Interessant wäre ein Vergleich zwischen dein in Obigem angedeuteten jetzigen Zustande der italienischen Volkspoesie und derjenigen anderer südlicher Nationen, namentlich der spanischen, auch vielleicht, so weit die Sangweise in Betracht kommt, der Bevölkerung jenseits des Mittelmeers. Das Material zu einer solchen Arbeit ist leider noch zerstreut und überhaupt das vergleichende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/240>, abgerufen am 16.05.2024.