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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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wenig Leser berechnet sind. Aber diese Excurse durften nicht fehlen, wenn das
Buch seinen Zweck, den vollständigen Abschluß des Materials, erfüllen sollte;
der Laie kann sie mit leichter Mühe überschlagen, und was übrig bleibt
wird jeden fesseln, der überhaupt Sinn sür das Verständniß menscklicher Zu¬
stünde, siden für geniale Größe hat, den Laien wie den Künstler, das Weib
wie den Mann. Wie alle Männer, die das Handwerkszeug ihrer Wissen¬
schaft im festen Vesii) haben und ihrem Gegenstand nach allen Seiten hin
gewachsen sind, besitzt Jahr im hohen Grade die Gabe der Popularität, d. h.
er ist im Stande, genau das zu sagen, was er sagen will, seinen Gedan¬
ken den adäquaten Ausdruck, seinem Gefühl den charakteristischen Tonfall zu
geben. Weit entfernt von dem vornehmen Wesen vieler unserer besten Ge¬
lehrten, die nur von denjenigen verstanden werden können und verstanden
werden wollen, welche dieselben Studien durchgemacht, dieselbe Höhe der
Wissenschaft erstiegen haben, betheiligt Jahr seinen Leser, indem er alle
Schwierigkeiten ebnet, an seiner Untersuchung, er legt ihm alle Actenstücke in
der gehörigen Ordnung vor. macht ihn aus die wichtigen Punkte aufmerksam,
und es gehörte schon eine ziemlich verwahrloste Bildung dazu, wenn man
ihm nicht in allen seinen Schlüssen folgen könnte.

Dennoch sind jene Vorwürfe nicht ganz ohne Grund; das Buch hätte
nicht unbeträchtlich abgekürzt werden können, ohne einen seiner Borzüge ein¬
zubüßen.

Einmal geht die Länge aus dem zu weit getriebenen Streben hervor,
durchaus verständlich zu sein, alles vollständig zu sagen, was überhaupt ge¬
sagt werden kann. Wir glauben, daß man dem Leser etwas mehr zumuthen
dürfte. Beim Dichter ist alle Welt davon überzeugt, daß er am meisten
wirkt, wenn er etwas zu errathen übrig läßt, vorausgesetzt, daß für jeden
normal gebildeten Verstand das Wort des Räthsels unzweifelhaft ist. Der
wissenschaftliche Schriftsteller hat dasselbe Recht, und abgesehn von dem ma¬
teriellen, keineswegs zu verachtenden Raumgewinn, erlangt er damit noch ein
zweites. Die Wahrheiten, die er ausspricht, und die Form, die er ihnen
gibt, prägen sich dem Gedächtniß und der Phantast" dann am lebhaftesten
ein, wenn" es einige Mühe kostet, sie in ihrem vollen Umfang zu würdigen.
Darin liegt zum Theil der Zauber der Dichter und Philosophen unseres
classischen Zeitalters. Freilich ist mit dieser Form der Paradoxie in Deutsch¬
land ein schreiender Mißbrauch getrieben worden, man hat den Leser über¬
listet oder vielmehr betrogen, indem man ihm durch Weglassung des vermit¬
telnden Gliedes eine für den bestimmten Fall evidente Formel als allgemeine
Regel einschmeichelte. Allein dieser Mißbrauch kann den richtigen Gebrauch
nicht aufheben. Zahns ästhetische und psychologische Deductionen sind so
gehaltvoll, sie dringen so tief in den Kern der Sache ein, daß der wahrhaft


wenig Leser berechnet sind. Aber diese Excurse durften nicht fehlen, wenn das
Buch seinen Zweck, den vollständigen Abschluß des Materials, erfüllen sollte;
der Laie kann sie mit leichter Mühe überschlagen, und was übrig bleibt
wird jeden fesseln, der überhaupt Sinn sür das Verständniß menscklicher Zu¬
stünde, siden für geniale Größe hat, den Laien wie den Künstler, das Weib
wie den Mann. Wie alle Männer, die das Handwerkszeug ihrer Wissen¬
schaft im festen Vesii) haben und ihrem Gegenstand nach allen Seiten hin
gewachsen sind, besitzt Jahr im hohen Grade die Gabe der Popularität, d. h.
er ist im Stande, genau das zu sagen, was er sagen will, seinen Gedan¬
ken den adäquaten Ausdruck, seinem Gefühl den charakteristischen Tonfall zu
geben. Weit entfernt von dem vornehmen Wesen vieler unserer besten Ge¬
lehrten, die nur von denjenigen verstanden werden können und verstanden
werden wollen, welche dieselben Studien durchgemacht, dieselbe Höhe der
Wissenschaft erstiegen haben, betheiligt Jahr seinen Leser, indem er alle
Schwierigkeiten ebnet, an seiner Untersuchung, er legt ihm alle Actenstücke in
der gehörigen Ordnung vor. macht ihn aus die wichtigen Punkte aufmerksam,
und es gehörte schon eine ziemlich verwahrloste Bildung dazu, wenn man
ihm nicht in allen seinen Schlüssen folgen könnte.

Dennoch sind jene Vorwürfe nicht ganz ohne Grund; das Buch hätte
nicht unbeträchtlich abgekürzt werden können, ohne einen seiner Borzüge ein¬
zubüßen.

Einmal geht die Länge aus dem zu weit getriebenen Streben hervor,
durchaus verständlich zu sein, alles vollständig zu sagen, was überhaupt ge¬
sagt werden kann. Wir glauben, daß man dem Leser etwas mehr zumuthen
dürfte. Beim Dichter ist alle Welt davon überzeugt, daß er am meisten
wirkt, wenn er etwas zu errathen übrig läßt, vorausgesetzt, daß für jeden
normal gebildeten Verstand das Wort des Räthsels unzweifelhaft ist. Der
wissenschaftliche Schriftsteller hat dasselbe Recht, und abgesehn von dem ma¬
teriellen, keineswegs zu verachtenden Raumgewinn, erlangt er damit noch ein
zweites. Die Wahrheiten, die er ausspricht, und die Form, die er ihnen
gibt, prägen sich dem Gedächtniß und der Phantast» dann am lebhaftesten
ein, wenn" es einige Mühe kostet, sie in ihrem vollen Umfang zu würdigen.
Darin liegt zum Theil der Zauber der Dichter und Philosophen unseres
classischen Zeitalters. Freilich ist mit dieser Form der Paradoxie in Deutsch¬
land ein schreiender Mißbrauch getrieben worden, man hat den Leser über¬
listet oder vielmehr betrogen, indem man ihm durch Weglassung des vermit¬
telnden Gliedes eine für den bestimmten Fall evidente Formel als allgemeine
Regel einschmeichelte. Allein dieser Mißbrauch kann den richtigen Gebrauch
nicht aufheben. Zahns ästhetische und psychologische Deductionen sind so
gehaltvoll, sie dringen so tief in den Kern der Sache ein, daß der wahrhaft


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/30>, abgerufen am 15.05.2024.