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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Die Belagerung begann im April des Jaures 70 n. Chr. Von den
drei Mauern, die die Stadt umgaben, nahmen die Römer nach funfzehn-
tägiger Arbeit trotz verzweifelter Gegenwehr die äußerste ein und machten sich
dann in vier Tagen zu Herren der dahinter aufgerichteten Zwischenmauer und
der Vorstadt Bezetha. Zur Erstürmung der zweiten Mauer und der (von
Herodes zu Ehren Marc Antons so genannten) Burg Antonia an der Nordwest¬
seite des Tempels warfen die Römer vier Dämme auf, die nach siebzehn¬
tägiger Arbeit vollendet waren. Aber die Belagerten waren nicht müßig ge¬
wesen, sie hatten von der Antonia aus die römischen Dämme unterminirt
und mit Pfählen gestützt, die nun plötzlich angezündet wurden, worauf die
Dämme in Qualm, Rauch und aufschlagenden Flammen einstürzten. Bei
einem Ausfall, zwei Tage darauf, steckten die Juden auch die Maschinen
in Brand.

Titus verzweifelte nun an dem Erfolg einer Bestürmung und entschloß
sich zur Blockade. Mit einer allen Glauben übersteigenden Schnelligkeit stieg
die Mauer in die Höhe, die Jerusalem von allen Seiten einschloß. Wenn
sich in der Stadt der Mangel an Lebensmitteln schon längst fühlbar ge¬
macht hatte, so begann nun der Hunger aufs furchtbarste zu wüthen. Das
Maß Weizen, erzählten Ueberläufer, sei zuletzt um ein Talent (1500 Thlr.)
verkauft worden. Die ekelhaftesten Dinge wurden gierig verschlungen; Cloaken
nach Resten von Eßbarem durchstöbert. Eine Frau aus dem transjordanischen
Lande, aus reichem und angesehenen Geschlecht, Namens Mirjam, schlachtete
und briet ihr eigenes Kind sich zur Speise. Häuser und Straßen füllten sich
mit Leichen, zu deren Begrabung es bald an Händen fehlte. Der Befehls¬
haber einer Thorwache, der zu den Römern überging, erzählte, aus diesem
einzigen Thor seien von April bis Juni 115,880 Todte humusgetragen wor¬
den. Natürlich fehlte es nicht an Ueberläufern. Viele derselben hatten Gold¬
stücke verschluckt. Sobald dies bemerkt wurde, fingen die arabischen und
syrischen Soldaten die Flüchtlinge und schlitzten ihnen die Bäuche auf, um
sie nach dem Golde zu durchsuchen. Nach Josephus wären in einer Nacht
2000 auf diese Weise umgekommen. Titus Strafandrohung bewirkte weiter
nichts, als daß diese Greuel heimlich verübt wurden.

Unter all diesen Schrecken des Todes, furchtbarer als die kühnste Phan¬
tasie sie erfinden könnte, ließ die Energie der Vertheidigung um kein Haar ^
breit nach. Schon fing sich nach Josephus im römischen Lager die Besorgniß
an zu regen, Jerusalem sei uneinnehmbar. Im Juni oder Juli siel endlich die
Burg Antonia, aber hinter ihr war eine neue Mauer aufgerichtet worden.
Die Hallen, welche die Antonia mit dem Tempel verbanden, brannten die
Juden selbst nieder, andere gingen bei den Stürmen der Römer in Feuer
auf. Der nächste Angriff galt dem Tempel selbst. Sechs Tage lang ver-


Die Belagerung begann im April des Jaures 70 n. Chr. Von den
drei Mauern, die die Stadt umgaben, nahmen die Römer nach funfzehn-
tägiger Arbeit trotz verzweifelter Gegenwehr die äußerste ein und machten sich
dann in vier Tagen zu Herren der dahinter aufgerichteten Zwischenmauer und
der Vorstadt Bezetha. Zur Erstürmung der zweiten Mauer und der (von
Herodes zu Ehren Marc Antons so genannten) Burg Antonia an der Nordwest¬
seite des Tempels warfen die Römer vier Dämme auf, die nach siebzehn¬
tägiger Arbeit vollendet waren. Aber die Belagerten waren nicht müßig ge¬
wesen, sie hatten von der Antonia aus die römischen Dämme unterminirt
und mit Pfählen gestützt, die nun plötzlich angezündet wurden, worauf die
Dämme in Qualm, Rauch und aufschlagenden Flammen einstürzten. Bei
einem Ausfall, zwei Tage darauf, steckten die Juden auch die Maschinen
in Brand.

Titus verzweifelte nun an dem Erfolg einer Bestürmung und entschloß
sich zur Blockade. Mit einer allen Glauben übersteigenden Schnelligkeit stieg
die Mauer in die Höhe, die Jerusalem von allen Seiten einschloß. Wenn
sich in der Stadt der Mangel an Lebensmitteln schon längst fühlbar ge¬
macht hatte, so begann nun der Hunger aufs furchtbarste zu wüthen. Das
Maß Weizen, erzählten Ueberläufer, sei zuletzt um ein Talent (1500 Thlr.)
verkauft worden. Die ekelhaftesten Dinge wurden gierig verschlungen; Cloaken
nach Resten von Eßbarem durchstöbert. Eine Frau aus dem transjordanischen
Lande, aus reichem und angesehenen Geschlecht, Namens Mirjam, schlachtete
und briet ihr eigenes Kind sich zur Speise. Häuser und Straßen füllten sich
mit Leichen, zu deren Begrabung es bald an Händen fehlte. Der Befehls¬
haber einer Thorwache, der zu den Römern überging, erzählte, aus diesem
einzigen Thor seien von April bis Juni 115,880 Todte humusgetragen wor¬
den. Natürlich fehlte es nicht an Ueberläufern. Viele derselben hatten Gold¬
stücke verschluckt. Sobald dies bemerkt wurde, fingen die arabischen und
syrischen Soldaten die Flüchtlinge und schlitzten ihnen die Bäuche auf, um
sie nach dem Golde zu durchsuchen. Nach Josephus wären in einer Nacht
2000 auf diese Weise umgekommen. Titus Strafandrohung bewirkte weiter
nichts, als daß diese Greuel heimlich verübt wurden.

Unter all diesen Schrecken des Todes, furchtbarer als die kühnste Phan¬
tasie sie erfinden könnte, ließ die Energie der Vertheidigung um kein Haar ^
breit nach. Schon fing sich nach Josephus im römischen Lager die Besorgniß
an zu regen, Jerusalem sei uneinnehmbar. Im Juni oder Juli siel endlich die
Burg Antonia, aber hinter ihr war eine neue Mauer aufgerichtet worden.
Die Hallen, welche die Antonia mit dem Tempel verbanden, brannten die
Juden selbst nieder, andere gingen bei den Stürmen der Römer in Feuer
auf. Der nächste Angriff galt dem Tempel selbst. Sechs Tage lang ver-


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[0350] Die Belagerung begann im April des Jaures 70 n. Chr. Von den drei Mauern, die die Stadt umgaben, nahmen die Römer nach funfzehn- tägiger Arbeit trotz verzweifelter Gegenwehr die äußerste ein und machten sich dann in vier Tagen zu Herren der dahinter aufgerichteten Zwischenmauer und der Vorstadt Bezetha. Zur Erstürmung der zweiten Mauer und der (von Herodes zu Ehren Marc Antons so genannten) Burg Antonia an der Nordwest¬ seite des Tempels warfen die Römer vier Dämme auf, die nach siebzehn¬ tägiger Arbeit vollendet waren. Aber die Belagerten waren nicht müßig ge¬ wesen, sie hatten von der Antonia aus die römischen Dämme unterminirt und mit Pfählen gestützt, die nun plötzlich angezündet wurden, worauf die Dämme in Qualm, Rauch und aufschlagenden Flammen einstürzten. Bei einem Ausfall, zwei Tage darauf, steckten die Juden auch die Maschinen in Brand. Titus verzweifelte nun an dem Erfolg einer Bestürmung und entschloß sich zur Blockade. Mit einer allen Glauben übersteigenden Schnelligkeit stieg die Mauer in die Höhe, die Jerusalem von allen Seiten einschloß. Wenn sich in der Stadt der Mangel an Lebensmitteln schon längst fühlbar ge¬ macht hatte, so begann nun der Hunger aufs furchtbarste zu wüthen. Das Maß Weizen, erzählten Ueberläufer, sei zuletzt um ein Talent (1500 Thlr.) verkauft worden. Die ekelhaftesten Dinge wurden gierig verschlungen; Cloaken nach Resten von Eßbarem durchstöbert. Eine Frau aus dem transjordanischen Lande, aus reichem und angesehenen Geschlecht, Namens Mirjam, schlachtete und briet ihr eigenes Kind sich zur Speise. Häuser und Straßen füllten sich mit Leichen, zu deren Begrabung es bald an Händen fehlte. Der Befehls¬ haber einer Thorwache, der zu den Römern überging, erzählte, aus diesem einzigen Thor seien von April bis Juni 115,880 Todte humusgetragen wor¬ den. Natürlich fehlte es nicht an Ueberläufern. Viele derselben hatten Gold¬ stücke verschluckt. Sobald dies bemerkt wurde, fingen die arabischen und syrischen Soldaten die Flüchtlinge und schlitzten ihnen die Bäuche auf, um sie nach dem Golde zu durchsuchen. Nach Josephus wären in einer Nacht 2000 auf diese Weise umgekommen. Titus Strafandrohung bewirkte weiter nichts, als daß diese Greuel heimlich verübt wurden. Unter all diesen Schrecken des Todes, furchtbarer als die kühnste Phan¬ tasie sie erfinden könnte, ließ die Energie der Vertheidigung um kein Haar ^ breit nach. Schon fing sich nach Josephus im römischen Lager die Besorgniß an zu regen, Jerusalem sei uneinnehmbar. Im Juni oder Juli siel endlich die Burg Antonia, aber hinter ihr war eine neue Mauer aufgerichtet worden. Die Hallen, welche die Antonia mit dem Tempel verbanden, brannten die Juden selbst nieder, andere gingen bei den Stürmen der Römer in Feuer auf. Der nächste Angriff galt dem Tempel selbst. Sechs Tage lang ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/350>, abgerufen am 29.05.2024.