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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Ache" Lebenslust dazu, sich etwas zu gute zu thun, denn die "gemüthliche"
Hoffnung schmeichelt die ewige Dauer solcher Zeiten vor.

Auch bei der ledigen Jugend artet die Gemüthlichkeit leicht aus. Sie
soll hier und da in gedankenlose Lustigmacherei. ja in üppige Sinnlichkeit um¬
schlagen. Die Singspaziergange des Feierabends wurden mir in einer Stadt
als anstößiges Umhertreiben bezeichnet, bei dem man frage, ob die Polizei
das Chiragra habe, daß sie nicht dreinschlage. Ich wünschte diese Darstellung
als übertrieben bezeichnen zu können, da ich selbst bei meiner Anwesenheit die
Straßen sarglos fand; aber man wird mir einwenden, daß es nicht immer,
Wie damals, in Strömen regne, und wird mir die Geburtslisten entgegenhalten,
die allerdings ein ungünstiges Zeugniß ablegen.

Die Gemüthlichkeit lahmt, wo sie den Grundton des Charakters bildet,
den Willen zum Bessermachen, zum Vorwärtsschreiten. So wohl es thut, aus
dem Erzgebirg keine verbitterten Gesichter zu treffen, welche die Neigung zu
Aufruhr verrathen, so sehr muß man im Gegentheil bedauern, daß auch die
Energie zu fehlen scheint, die durch Selbsthilfe und durch vereinigte Kräfte
das Loos zu bessern sucht. Es bestehen für einzelne Kreise und Berufsarten
wancherlei.Vereine und Anstalten, welche gemeinsame Bedürfnisse zu befriedigen
und Mißständen vorzubeugen streben, namentlich für die Bergleute existiren
Speiseanstalten, Unterstützungskassen für Kranke, Witwenknssen u. tgi. Aber
Alast eine einzige Unternehmung wurde mir genannt, die,von den Arbeitern
selbst gestiftet und geleitet würde. Ueberall läßt man am liebsten die Behör¬
den sorgen. In England ist das Sprichwort: "ein armer Mann ist so voll
von Plänen, wie ein- El voll von Speise" eine Wahrheit. Jeder macht Pläne
und Speculationen. Anders scheint es auf dein Erzgebirge zu sein. Aus den
besprachen, die ich mit Männern der arbeitenden Classe geführt, mußte ich
schließen, daß sie die Frage, was sie durch eigne Kraft zur Besserung ihrer
Zustände beitragen können, sich selten oder nie auswerfen und noch seltner
^Rist besprechen. Man hofft auf die Eisenbahn, auf gute Handelsverhültnisse,
auf lauter Früchte, die reif in den Schooß fallen sollen. Man denkt nicht,
wie von allen Bergvölkern, von den Schotten an bis zu den Slovaken ge¬
dicht, um zeitweilige Auswanderung, um ein durch lohnende Arbeit erspartes
Sümmchen heimzutragen: man läßt den Sohn fast nach den Satzungen einer
Kaste immer wieder den väterlichen Beruf ergreifen, so sehr anch dessen Aus¬
säten trübe sind. Man hört nicht von jungen Leuten, die eifrig sparen, um
'hr Heil über dem Meere zu versuchen.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die gemüthliche Genügsamkeit vielfach
w zagen Hilflosigkeit und Unbehilflichkeit geworden ist. Dazu hat außer dem
Einflüsse des industriellen Lebens gar sehr beigetragen, daß das Erzgebirg
öfter das Unglück gehabt hat, fremde mildthätige Unterstützungen annehmen


Grenzten III. ILüv. 14

Ache" Lebenslust dazu, sich etwas zu gute zu thun, denn die „gemüthliche"
Hoffnung schmeichelt die ewige Dauer solcher Zeiten vor.

Auch bei der ledigen Jugend artet die Gemüthlichkeit leicht aus. Sie
soll hier und da in gedankenlose Lustigmacherei. ja in üppige Sinnlichkeit um¬
schlagen. Die Singspaziergange des Feierabends wurden mir in einer Stadt
als anstößiges Umhertreiben bezeichnet, bei dem man frage, ob die Polizei
das Chiragra habe, daß sie nicht dreinschlage. Ich wünschte diese Darstellung
als übertrieben bezeichnen zu können, da ich selbst bei meiner Anwesenheit die
Straßen sarglos fand; aber man wird mir einwenden, daß es nicht immer,
Wie damals, in Strömen regne, und wird mir die Geburtslisten entgegenhalten,
die allerdings ein ungünstiges Zeugniß ablegen.

Die Gemüthlichkeit lahmt, wo sie den Grundton des Charakters bildet,
den Willen zum Bessermachen, zum Vorwärtsschreiten. So wohl es thut, aus
dem Erzgebirg keine verbitterten Gesichter zu treffen, welche die Neigung zu
Aufruhr verrathen, so sehr muß man im Gegentheil bedauern, daß auch die
Energie zu fehlen scheint, die durch Selbsthilfe und durch vereinigte Kräfte
das Loos zu bessern sucht. Es bestehen für einzelne Kreise und Berufsarten
wancherlei.Vereine und Anstalten, welche gemeinsame Bedürfnisse zu befriedigen
und Mißständen vorzubeugen streben, namentlich für die Bergleute existiren
Speiseanstalten, Unterstützungskassen für Kranke, Witwenknssen u. tgi. Aber
Alast eine einzige Unternehmung wurde mir genannt, die,von den Arbeitern
selbst gestiftet und geleitet würde. Ueberall läßt man am liebsten die Behör¬
den sorgen. In England ist das Sprichwort: „ein armer Mann ist so voll
von Plänen, wie ein- El voll von Speise" eine Wahrheit. Jeder macht Pläne
und Speculationen. Anders scheint es auf dein Erzgebirge zu sein. Aus den
besprachen, die ich mit Männern der arbeitenden Classe geführt, mußte ich
schließen, daß sie die Frage, was sie durch eigne Kraft zur Besserung ihrer
Zustände beitragen können, sich selten oder nie auswerfen und noch seltner
^Rist besprechen. Man hofft auf die Eisenbahn, auf gute Handelsverhültnisse,
auf lauter Früchte, die reif in den Schooß fallen sollen. Man denkt nicht,
wie von allen Bergvölkern, von den Schotten an bis zu den Slovaken ge¬
dicht, um zeitweilige Auswanderung, um ein durch lohnende Arbeit erspartes
Sümmchen heimzutragen: man läßt den Sohn fast nach den Satzungen einer
Kaste immer wieder den väterlichen Beruf ergreifen, so sehr anch dessen Aus¬
säten trübe sind. Man hört nicht von jungen Leuten, die eifrig sparen, um
'hr Heil über dem Meere zu versuchen.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die gemüthliche Genügsamkeit vielfach
w zagen Hilflosigkeit und Unbehilflichkeit geworden ist. Dazu hat außer dem
Einflüsse des industriellen Lebens gar sehr beigetragen, daß das Erzgebirg
öfter das Unglück gehabt hat, fremde mildthätige Unterstützungen annehmen


Grenzten III. ILüv. 14
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/119>, abgerufen am 30.05.2024.