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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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gebirgs in den letzten hundert Jahren. Bis gegen das letzte Viertel des vo¬
rigen Jahrhunderts war außer dem Ackerbau für die männliche Bevölkerung
die Gewinnung" der Erze, für die weibliche das Spitzenklöppeln Hauptnahrungs¬
zweig gewesen. Jetzt kamen neue Industriezweige auf. Die Schmiedeinnung
bildete sich an verschiedenen Orten zur Hausindustrie der Blech- und Löffel¬
schmiede aus. In einigen Dörfern wurde das Verfertiger von Nägeln fast
allgemeine Beschäftigung. Im östlichen Theil des Gebirgs sproßte eine Holz¬
industrie auf, welche vorzüglich Kinderspielzeug lieferte. Aber alle diese Ge¬
werbe waren nicht im Stande, die große Zahl der rasch sich mehrenden Be¬
völkerung zu ernähren, und noch weniger war dies der Fall mit solchen In¬
dustriezweigen, welche wie die Serpentindrechselei, das Bereiten von Feuer¬
schwamm, das Anfertigen von Medicin, die Bürstenbinderei und die Korb¬
macherei sich auf einen Ort beschränkten. So bildeten sich immer mehr neue
Gewerbe aus. Zur Leinweberei traten die Verarbeitung von Baumwolle und
die Strumpfwirkerei, die sich von Chemnitz aus über ganze Reihen von Dör¬
fern bis zum höchsten Kamm des Gebirgs verbreitete. Neben der altgewohn¬
ten Arbeit des Klöppelns kam das Sticken mit der Häkelnadel auf. Alle diese
Beschäftigungen nahmen die Form der Hausindustrie an. Anfangs arbeitete
jeder Hausvater auf eigne Rechnung, kaufte die Rohstoffe und verkaufte die
fertige Waare selbst. Bald aber thaten sich Vertreiber und Großhändler
auf, welche die Arbeiten aufkaufen ließen. Leidlicher Verdienst warb alljähr¬
lich mehr Menschen für jeden einzelnen Industriezweig. Die größere Zahl der
Mitbewerber drückte cillmälig den Verdienst herab, und bisweilen stockte der¬
selbe durch Ueberproduction oder Handelskrisen völlig. Manche Beschäftigung
lohnte schon damals so schlecht, daß der, welcher sie betrieb, nur unter Ent¬
behrungen das Leben fristete.

Noch schlimmer wurde es im neunzehnten Jahrhundert. Der Bergbau
tthielt sich im Allgemeinen auf gleicher Höhe mit früheren Perioden, ja er
hob sich stellenweise sogar, wenn auch nicht in dem Maße, daß man die Löhne
sehr merkbar hätte erhöhen können. Dagegen drang jetzt gegen die Haus¬
industrie ein Feind heran, gegen den alles Kämpfen vergeblich war. Dieser
Feind war die englische Industrie mit ihren Maschinen. Die Namen Art-
^ight, Hargrave und Heathcoat tönen für das Erzgebirg wie ebenso viele
Schreckensrufe. Der zur Zeit der Continentalsperre eingetretene Waffenstill¬
stand in diesem Kampfe zwischen deutscher und englischer Industrie hatte einer¬
seits zwar den Uebelstand, daß Sachsen von seinen Manufacturwaaren nichts
über die See versenden durfte, andererseits aber den Vortheil, daß man Muße
hatte, sich dieselben Waffen zu schmieden, mit welchen der Brite drohte. Die
Spinnmaschine, welche in den ersten Jahren des neuen Jahrzehnts in
Sachsen zu arbeiten begann, hat viele Tausende brodlos gemacht. Noch 1307


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gebirgs in den letzten hundert Jahren. Bis gegen das letzte Viertel des vo¬
rigen Jahrhunderts war außer dem Ackerbau für die männliche Bevölkerung
die Gewinnung" der Erze, für die weibliche das Spitzenklöppeln Hauptnahrungs¬
zweig gewesen. Jetzt kamen neue Industriezweige auf. Die Schmiedeinnung
bildete sich an verschiedenen Orten zur Hausindustrie der Blech- und Löffel¬
schmiede aus. In einigen Dörfern wurde das Verfertiger von Nägeln fast
allgemeine Beschäftigung. Im östlichen Theil des Gebirgs sproßte eine Holz¬
industrie auf, welche vorzüglich Kinderspielzeug lieferte. Aber alle diese Ge¬
werbe waren nicht im Stande, die große Zahl der rasch sich mehrenden Be¬
völkerung zu ernähren, und noch weniger war dies der Fall mit solchen In¬
dustriezweigen, welche wie die Serpentindrechselei, das Bereiten von Feuer¬
schwamm, das Anfertigen von Medicin, die Bürstenbinderei und die Korb¬
macherei sich auf einen Ort beschränkten. So bildeten sich immer mehr neue
Gewerbe aus. Zur Leinweberei traten die Verarbeitung von Baumwolle und
die Strumpfwirkerei, die sich von Chemnitz aus über ganze Reihen von Dör¬
fern bis zum höchsten Kamm des Gebirgs verbreitete. Neben der altgewohn¬
ten Arbeit des Klöppelns kam das Sticken mit der Häkelnadel auf. Alle diese
Beschäftigungen nahmen die Form der Hausindustrie an. Anfangs arbeitete
jeder Hausvater auf eigne Rechnung, kaufte die Rohstoffe und verkaufte die
fertige Waare selbst. Bald aber thaten sich Vertreiber und Großhändler
auf, welche die Arbeiten aufkaufen ließen. Leidlicher Verdienst warb alljähr¬
lich mehr Menschen für jeden einzelnen Industriezweig. Die größere Zahl der
Mitbewerber drückte cillmälig den Verdienst herab, und bisweilen stockte der¬
selbe durch Ueberproduction oder Handelskrisen völlig. Manche Beschäftigung
lohnte schon damals so schlecht, daß der, welcher sie betrieb, nur unter Ent¬
behrungen das Leben fristete.

Noch schlimmer wurde es im neunzehnten Jahrhundert. Der Bergbau
tthielt sich im Allgemeinen auf gleicher Höhe mit früheren Perioden, ja er
hob sich stellenweise sogar, wenn auch nicht in dem Maße, daß man die Löhne
sehr merkbar hätte erhöhen können. Dagegen drang jetzt gegen die Haus¬
industrie ein Feind heran, gegen den alles Kämpfen vergeblich war. Dieser
Feind war die englische Industrie mit ihren Maschinen. Die Namen Art-
^ight, Hargrave und Heathcoat tönen für das Erzgebirg wie ebenso viele
Schreckensrufe. Der zur Zeit der Continentalsperre eingetretene Waffenstill¬
stand in diesem Kampfe zwischen deutscher und englischer Industrie hatte einer¬
seits zwar den Uebelstand, daß Sachsen von seinen Manufacturwaaren nichts
über die See versenden durfte, andererseits aber den Vortheil, daß man Muße
hatte, sich dieselben Waffen zu schmieden, mit welchen der Brite drohte. Die
Spinnmaschine, welche in den ersten Jahren des neuen Jahrzehnts in
Sachsen zu arbeiten begann, hat viele Tausende brodlos gemacht. Noch 1307


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/121>, abgerufen am 30.05.2024.