Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

auf den Compaß gesehen und vergnügter wie je davon aufgeblickt, sagte, zu
nur tretend, mit dem Ton einer erleichterten Brust: "Gott Lob, so wären
wir denn in Afrika!" Die alten Moskowiterinnen, die seit dem Auftauchen
der Küste ganz außer sich gewesen, gelacht und geweint, mir gewinkt und
Zeichen gemacht, sich nach dem Lande hin verbeugt und mit ihrem Begleiter
um die Wette Doppelkreuz auf Doppelkreuz geschlagen, standen in ihren langen
weißen Schafpelzen neben ihren Schlafstätten und beteten mit einer Inbrunst,
als ob sich ihnen der Himmel geöffnet hätte. Und warum nicht? War es
nicht das Paradies, das sie am Morgen betreten sollten, so verbürgte ihnen
die Reise hierher das Paradies. Die Wallfahrt bewirkt bei ihnen voll¬
kommene Vergebung der Sünden, der vergangenen wie der zukünftigen, sie
macht nicht blos Mord und Blutschande ungeschehen, sondern sogar weit
schwerere Vergehungen, z. B. Verletzung der Fasten. Die frommen Pilgerinnen
wußten ferner, daß sie das Geburtshaus zu Bethlehem und die Stelle, wo
der Stern der drei Weisen hin geschienen, den Saal über dem Grabmal Zar
Davids, wo der Herr das Abendmahl eingesetzt, den Garten Gethsemane und
die Grotte, wo er Blut geschwitzt, besuchen, daß sie die wahrhafte Gruft ihres
Erlösers und die Stelle, wo sein Kreuz gestanden, vor sich haben würden-
Sie sollten die Spur seines Fußes küssen aus dem Berge, von dem er gen
Himmel gefahren. Eine Fülle von Reliquien mit entsündigender Kraft, von
Erinnerungen an heilige Patriarchen und Propheten, Apostel und Eremiten,
eine Unzahl von heiligen Häusern, Klöstern, Quellen, Bäumen, von heiligen
Knochen. Schädeln und Marterwerkzeugen, jedes von einer besondern Glorie
umgeben, strahlte ihrem gläubigen Auge entgegen. Und wenn sie das alles
mit andächtiger Verehrung zu ihrer Seelen Seligkeit geschaut, sollten sie hin-
abwallen zum Ufer des hochgebenedeiten, durch Jesu Leib auf ewige Zeiten
geweihten Jordan und, bekleidet mit ihrem dereinstigen Sterbehemd, an der¬
selben Stelle, wo Johannes den Herrn getauft, in die Flut steigen, durch
Untertauchen gleichsam an sich selbst eine zweite Taufe vollziehen und in dein
Hemd und dem ihm zur Bekräftigung von den Mönchen Jerusalems aus¬
gedrückten Stempel den sichersten Paß sür die Reise aus dem Sarge in den
Himmel mit hinnehmen.

Fürwahr, die guten Weiber schienen zu beneiden, doppelt zu beneiden,
wenn man in der Stimmung, mit der Bildung und dem Gewissen eines der
Heiden weiland Zar Nikolais neben ihnen stand. Ich verliere keine Worte dar¬
über, daß auch ein solcher Heide im Angesicht des heiligen Landes ernste Gedanken
haben, daß er sich erinnern kann, wie hier der Wurzelstock von drei Religionen
stand, von denen zwei die Welt beherrschen, daß manches, was er als Nach'
halt der Kindheit ins reifere Alter herübergenommen, ihm hier wieder zum
Bilde, zur Gestalt wird. Die Aufregung und Rührung des christlichen Pik-


auf den Compaß gesehen und vergnügter wie je davon aufgeblickt, sagte, zu
nur tretend, mit dem Ton einer erleichterten Brust: „Gott Lob, so wären
wir denn in Afrika!" Die alten Moskowiterinnen, die seit dem Auftauchen
der Küste ganz außer sich gewesen, gelacht und geweint, mir gewinkt und
Zeichen gemacht, sich nach dem Lande hin verbeugt und mit ihrem Begleiter
um die Wette Doppelkreuz auf Doppelkreuz geschlagen, standen in ihren langen
weißen Schafpelzen neben ihren Schlafstätten und beteten mit einer Inbrunst,
als ob sich ihnen der Himmel geöffnet hätte. Und warum nicht? War es
nicht das Paradies, das sie am Morgen betreten sollten, so verbürgte ihnen
die Reise hierher das Paradies. Die Wallfahrt bewirkt bei ihnen voll¬
kommene Vergebung der Sünden, der vergangenen wie der zukünftigen, sie
macht nicht blos Mord und Blutschande ungeschehen, sondern sogar weit
schwerere Vergehungen, z. B. Verletzung der Fasten. Die frommen Pilgerinnen
wußten ferner, daß sie das Geburtshaus zu Bethlehem und die Stelle, wo
der Stern der drei Weisen hin geschienen, den Saal über dem Grabmal Zar
Davids, wo der Herr das Abendmahl eingesetzt, den Garten Gethsemane und
die Grotte, wo er Blut geschwitzt, besuchen, daß sie die wahrhafte Gruft ihres
Erlösers und die Stelle, wo sein Kreuz gestanden, vor sich haben würden-
Sie sollten die Spur seines Fußes küssen aus dem Berge, von dem er gen
Himmel gefahren. Eine Fülle von Reliquien mit entsündigender Kraft, von
Erinnerungen an heilige Patriarchen und Propheten, Apostel und Eremiten,
eine Unzahl von heiligen Häusern, Klöstern, Quellen, Bäumen, von heiligen
Knochen. Schädeln und Marterwerkzeugen, jedes von einer besondern Glorie
umgeben, strahlte ihrem gläubigen Auge entgegen. Und wenn sie das alles
mit andächtiger Verehrung zu ihrer Seelen Seligkeit geschaut, sollten sie hin-
abwallen zum Ufer des hochgebenedeiten, durch Jesu Leib auf ewige Zeiten
geweihten Jordan und, bekleidet mit ihrem dereinstigen Sterbehemd, an der¬
selben Stelle, wo Johannes den Herrn getauft, in die Flut steigen, durch
Untertauchen gleichsam an sich selbst eine zweite Taufe vollziehen und in dein
Hemd und dem ihm zur Bekräftigung von den Mönchen Jerusalems aus¬
gedrückten Stempel den sichersten Paß sür die Reise aus dem Sarge in den
Himmel mit hinnehmen.

Fürwahr, die guten Weiber schienen zu beneiden, doppelt zu beneiden,
wenn man in der Stimmung, mit der Bildung und dem Gewissen eines der
Heiden weiland Zar Nikolais neben ihnen stand. Ich verliere keine Worte dar¬
über, daß auch ein solcher Heide im Angesicht des heiligen Landes ernste Gedanken
haben, daß er sich erinnern kann, wie hier der Wurzelstock von drei Religionen
stand, von denen zwei die Welt beherrschen, daß manches, was er als Nach'
halt der Kindheit ins reifere Alter herübergenommen, ihm hier wieder zum
Bilde, zur Gestalt wird. Die Aufregung und Rührung des christlichen Pik-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0230" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107816"/>
            <p xml:id="ID_725" prev="#ID_724"> auf den Compaß gesehen und vergnügter wie je davon aufgeblickt, sagte, zu<lb/>
nur tretend, mit dem Ton einer erleichterten Brust: &#x201E;Gott Lob, so wären<lb/>
wir denn in Afrika!" Die alten Moskowiterinnen, die seit dem Auftauchen<lb/>
der Küste ganz außer sich gewesen, gelacht und geweint, mir gewinkt und<lb/>
Zeichen gemacht, sich nach dem Lande hin verbeugt und mit ihrem Begleiter<lb/>
um die Wette Doppelkreuz auf Doppelkreuz geschlagen, standen in ihren langen<lb/>
weißen Schafpelzen neben ihren Schlafstätten und beteten mit einer Inbrunst,<lb/>
als ob sich ihnen der Himmel geöffnet hätte. Und warum nicht? War es<lb/>
nicht das Paradies, das sie am Morgen betreten sollten, so verbürgte ihnen<lb/>
die Reise hierher das Paradies. Die Wallfahrt bewirkt bei ihnen voll¬<lb/>
kommene Vergebung der Sünden, der vergangenen wie der zukünftigen, sie<lb/>
macht nicht blos Mord und Blutschande ungeschehen, sondern sogar weit<lb/>
schwerere Vergehungen, z. B. Verletzung der Fasten. Die frommen Pilgerinnen<lb/>
wußten ferner, daß sie das Geburtshaus zu Bethlehem und die Stelle, wo<lb/>
der Stern der drei Weisen hin geschienen, den Saal über dem Grabmal Zar<lb/>
Davids, wo der Herr das Abendmahl eingesetzt, den Garten Gethsemane und<lb/>
die Grotte, wo er Blut geschwitzt, besuchen, daß sie die wahrhafte Gruft ihres<lb/>
Erlösers und die Stelle, wo sein Kreuz gestanden, vor sich haben würden-<lb/>
Sie sollten die Spur seines Fußes küssen aus dem Berge, von dem er gen<lb/>
Himmel gefahren. Eine Fülle von Reliquien mit entsündigender Kraft, von<lb/>
Erinnerungen an heilige Patriarchen und Propheten, Apostel und Eremiten,<lb/>
eine Unzahl von heiligen Häusern, Klöstern, Quellen, Bäumen, von heiligen<lb/>
Knochen. Schädeln und Marterwerkzeugen, jedes von einer besondern Glorie<lb/>
umgeben, strahlte ihrem gläubigen Auge entgegen. Und wenn sie das alles<lb/>
mit andächtiger Verehrung zu ihrer Seelen Seligkeit geschaut, sollten sie hin-<lb/>
abwallen zum Ufer des hochgebenedeiten, durch Jesu Leib auf ewige Zeiten<lb/>
geweihten Jordan und, bekleidet mit ihrem dereinstigen Sterbehemd, an der¬<lb/>
selben Stelle, wo Johannes den Herrn getauft, in die Flut steigen, durch<lb/>
Untertauchen gleichsam an sich selbst eine zweite Taufe vollziehen und in dein<lb/>
Hemd und dem ihm zur Bekräftigung von den Mönchen Jerusalems aus¬<lb/>
gedrückten Stempel den sichersten Paß sür die Reise aus dem Sarge in den<lb/>
Himmel mit hinnehmen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_726" next="#ID_727"> Fürwahr, die guten Weiber schienen zu beneiden, doppelt zu beneiden,<lb/>
wenn man in der Stimmung, mit der Bildung und dem Gewissen eines der<lb/>
Heiden weiland Zar Nikolais neben ihnen stand. Ich verliere keine Worte dar¬<lb/>
über, daß auch ein solcher Heide im Angesicht des heiligen Landes ernste Gedanken<lb/>
haben, daß er sich erinnern kann, wie hier der Wurzelstock von drei Religionen<lb/>
stand, von denen zwei die Welt beherrschen, daß manches, was er als Nach'<lb/>
halt der Kindheit ins reifere Alter herübergenommen, ihm hier wieder zum<lb/>
Bilde, zur Gestalt wird.  Die Aufregung und Rührung des christlichen Pik-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0230] auf den Compaß gesehen und vergnügter wie je davon aufgeblickt, sagte, zu nur tretend, mit dem Ton einer erleichterten Brust: „Gott Lob, so wären wir denn in Afrika!" Die alten Moskowiterinnen, die seit dem Auftauchen der Küste ganz außer sich gewesen, gelacht und geweint, mir gewinkt und Zeichen gemacht, sich nach dem Lande hin verbeugt und mit ihrem Begleiter um die Wette Doppelkreuz auf Doppelkreuz geschlagen, standen in ihren langen weißen Schafpelzen neben ihren Schlafstätten und beteten mit einer Inbrunst, als ob sich ihnen der Himmel geöffnet hätte. Und warum nicht? War es nicht das Paradies, das sie am Morgen betreten sollten, so verbürgte ihnen die Reise hierher das Paradies. Die Wallfahrt bewirkt bei ihnen voll¬ kommene Vergebung der Sünden, der vergangenen wie der zukünftigen, sie macht nicht blos Mord und Blutschande ungeschehen, sondern sogar weit schwerere Vergehungen, z. B. Verletzung der Fasten. Die frommen Pilgerinnen wußten ferner, daß sie das Geburtshaus zu Bethlehem und die Stelle, wo der Stern der drei Weisen hin geschienen, den Saal über dem Grabmal Zar Davids, wo der Herr das Abendmahl eingesetzt, den Garten Gethsemane und die Grotte, wo er Blut geschwitzt, besuchen, daß sie die wahrhafte Gruft ihres Erlösers und die Stelle, wo sein Kreuz gestanden, vor sich haben würden- Sie sollten die Spur seines Fußes küssen aus dem Berge, von dem er gen Himmel gefahren. Eine Fülle von Reliquien mit entsündigender Kraft, von Erinnerungen an heilige Patriarchen und Propheten, Apostel und Eremiten, eine Unzahl von heiligen Häusern, Klöstern, Quellen, Bäumen, von heiligen Knochen. Schädeln und Marterwerkzeugen, jedes von einer besondern Glorie umgeben, strahlte ihrem gläubigen Auge entgegen. Und wenn sie das alles mit andächtiger Verehrung zu ihrer Seelen Seligkeit geschaut, sollten sie hin- abwallen zum Ufer des hochgebenedeiten, durch Jesu Leib auf ewige Zeiten geweihten Jordan und, bekleidet mit ihrem dereinstigen Sterbehemd, an der¬ selben Stelle, wo Johannes den Herrn getauft, in die Flut steigen, durch Untertauchen gleichsam an sich selbst eine zweite Taufe vollziehen und in dein Hemd und dem ihm zur Bekräftigung von den Mönchen Jerusalems aus¬ gedrückten Stempel den sichersten Paß sür die Reise aus dem Sarge in den Himmel mit hinnehmen. Fürwahr, die guten Weiber schienen zu beneiden, doppelt zu beneiden, wenn man in der Stimmung, mit der Bildung und dem Gewissen eines der Heiden weiland Zar Nikolais neben ihnen stand. Ich verliere keine Worte dar¬ über, daß auch ein solcher Heide im Angesicht des heiligen Landes ernste Gedanken haben, daß er sich erinnern kann, wie hier der Wurzelstock von drei Religionen stand, von denen zwei die Welt beherrschen, daß manches, was er als Nach' halt der Kindheit ins reifere Alter herübergenommen, ihm hier wieder zum Bilde, zur Gestalt wird. Die Aufregung und Rührung des christlichen Pik-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/230
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/230>, abgerufen am 30.05.2024.