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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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ließ Christum im Gespräch als Propheten gelten, was ein Talmudjude von
reinem Wasser nimmermehr thun wird, und hatte sogar die französischen und
englischen Bibeln nicht entfernt, welche ein Missionär für die Gäste aus den
Spiegeltisch gelegt.

Da es während meiner Anwesenheit in Jaffa gegen die Gewohnheit des
hiesigen Himmels wiederholt stark regnete, so hatte ich Gelegenheit, das Haus
und seine Bewohner gründlicher kennen zu lernen, als dies sonst der Fall ge¬
wesen sein würde. Und ich sah und hörte manches Eigenthümliche. Während
wir auf dem rothen Sopha des Hauptzimmers bei einem Nargileh über aller¬
hand Werkeltägliches sprachen, murmelte draußen auf dem Vorsaal ein alter
Rabbi mit wackelndem Bart und baumelnden Peißen seine Sabbathsgebete,
Am Nachmittag statteten türkische und arabische Nachbarn ihren Besuch ab.
Abends kam an der Hand seiner jungen Frau ein blinder Schulmeister, der
den jiingern Sohn des Wirthes zu einem Talmudgelehrten heranbilden sollte.
Ich fragte, wie das möglich sei, und erfuhr, daß der Blinde, ein Mann von
höchstens dreißig Jahren, nicht nur sämmtliche dreiundsechzig Tractate der
Mischn", sondern auch -- welch ein Gehirn voll Kehricht! -- die ganze je'
rusalemische Gemara Wort für Wort im Kopfe habe, ungerechnet die Thora
und die Neobiim und Ketubim, die er ebenfalls auswendig wissen sollte. Jo
Lauf des Ostertages löste ein Besuch den andern ab, um zum Feste Glück zu
wünschen und sich bewirthen zu lassen. Es kamen Sepharedim in Turbanen
und bunten Gewändern. Es erschienen Aschkenasim*) in schwarzseidnen Kaf-
tanen und polnischen Pelzmützen, die hier zu Lande viel getragen werden,
obwol sie unbequem heiß sein müssen. Es stellten sich endlich auch Weiber
ein. welche mit den Frauen des Hauses -- es war auch eine Schwiegertochter
vorhanden, schlank, zart, noch halb Kind und doch schon mit einem eigne"
Kinde an der Brust -- das landesübliche Salihegeschrei austauschten, ein
langgezogenes gellendes Aufjauchzen, welches in drei Sätzen von der unterste"
Stufe der Tonleiter auf die höchste springt, sich in die Fistel geschnellt über¬
schlägt und so plötzlich wie es gestiegen wieder unten ankommt, und das ich
später in Jerusalem auch von mohammedanischen Frauen bei freudigen und
traurigen Anlässen ausstoßen hörte.

Nachdem sich die ersten Wolken verzogen, bestieg ich das Platte Dach des
Hauses, welches als der höchste Punkt in ganz Jaffa eine schöne Rundsicht
gewährt. Im Westen breitete sich das tiefblau-e Meer mit den weißen Käm¬
men seiner Wogen aus. Im Osten weidete sich das Auge an dem Grün
von Orangcnhainen, zwischen denen zahlreiche weiße Landhäuser hervorblickten,
und hinter denen die Gefilde des alten Saron und weiterhin die Gipfel des
Gebirges Juda dämmerten. Unmittelbar unter mir lag die Stadt mit ihre"



") Aschkenastm deutsch redende, Sepharedim spanisch sprechende Juden.

ließ Christum im Gespräch als Propheten gelten, was ein Talmudjude von
reinem Wasser nimmermehr thun wird, und hatte sogar die französischen und
englischen Bibeln nicht entfernt, welche ein Missionär für die Gäste aus den
Spiegeltisch gelegt.

Da es während meiner Anwesenheit in Jaffa gegen die Gewohnheit des
hiesigen Himmels wiederholt stark regnete, so hatte ich Gelegenheit, das Haus
und seine Bewohner gründlicher kennen zu lernen, als dies sonst der Fall ge¬
wesen sein würde. Und ich sah und hörte manches Eigenthümliche. Während
wir auf dem rothen Sopha des Hauptzimmers bei einem Nargileh über aller¬
hand Werkeltägliches sprachen, murmelte draußen auf dem Vorsaal ein alter
Rabbi mit wackelndem Bart und baumelnden Peißen seine Sabbathsgebete,
Am Nachmittag statteten türkische und arabische Nachbarn ihren Besuch ab.
Abends kam an der Hand seiner jungen Frau ein blinder Schulmeister, der
den jiingern Sohn des Wirthes zu einem Talmudgelehrten heranbilden sollte.
Ich fragte, wie das möglich sei, und erfuhr, daß der Blinde, ein Mann von
höchstens dreißig Jahren, nicht nur sämmtliche dreiundsechzig Tractate der
Mischn«, sondern auch — welch ein Gehirn voll Kehricht! — die ganze je'
rusalemische Gemara Wort für Wort im Kopfe habe, ungerechnet die Thora
und die Neobiim und Ketubim, die er ebenfalls auswendig wissen sollte. Jo
Lauf des Ostertages löste ein Besuch den andern ab, um zum Feste Glück zu
wünschen und sich bewirthen zu lassen. Es kamen Sepharedim in Turbanen
und bunten Gewändern. Es erschienen Aschkenasim*) in schwarzseidnen Kaf-
tanen und polnischen Pelzmützen, die hier zu Lande viel getragen werden,
obwol sie unbequem heiß sein müssen. Es stellten sich endlich auch Weiber
ein. welche mit den Frauen des Hauses — es war auch eine Schwiegertochter
vorhanden, schlank, zart, noch halb Kind und doch schon mit einem eigne»
Kinde an der Brust — das landesübliche Salihegeschrei austauschten, ein
langgezogenes gellendes Aufjauchzen, welches in drei Sätzen von der unterste»
Stufe der Tonleiter auf die höchste springt, sich in die Fistel geschnellt über¬
schlägt und so plötzlich wie es gestiegen wieder unten ankommt, und das ich
später in Jerusalem auch von mohammedanischen Frauen bei freudigen und
traurigen Anlässen ausstoßen hörte.

Nachdem sich die ersten Wolken verzogen, bestieg ich das Platte Dach des
Hauses, welches als der höchste Punkt in ganz Jaffa eine schöne Rundsicht
gewährt. Im Westen breitete sich das tiefblau-e Meer mit den weißen Käm¬
men seiner Wogen aus. Im Osten weidete sich das Auge an dem Grün
von Orangcnhainen, zwischen denen zahlreiche weiße Landhäuser hervorblickten,
und hinter denen die Gefilde des alten Saron und weiterhin die Gipfel des
Gebirges Juda dämmerten. Unmittelbar unter mir lag die Stadt mit ihre»



") Aschkenastm deutsch redende, Sepharedim spanisch sprechende Juden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/260>, abgerufen am 28.05.2024.