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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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lich aus den nördlichen Theilen, ein Hauptcontingent der römischen Fremden
aus. "krussiaric)" ist ein in Rom beliebter Name und das Fest der deut¬
schen Künstler heißt der deutsche Carneval, das einzige Volksfest in Rom, das
von Fremden veranstaltet wird. Man huldigt überhaupt nirgend so sehr
dem Ketzer wie in Rom; die Macht des Katholicismus erscheint an seiner
Quelle nur klein, der Strom wächst erst, je weiter er sich ausbreitet: mit der
Entfernung der Leiber nimmt die Andacht der Seelen zu. während an der
Tiber, wo man die Maschinerie in der Nähe sieht, die Illusionen so leicht
schwinden. Marforio, eine komische Figur aus dem Volke, ein College von
Müller und Schulze, sagt zu seinem Freunde Pasquino: "Ich gehe nach der
Sixtinischen Kapelle, um die Musik zu hören." "Du gehst vergebens", warnt
Pasquino, "die Schweizer und die päpstlichen Cavaliere werden dich stoßen
und dich nicht hineinlassen." "O fürchte nichts, mein Freund, ich bin gestern
ein Ketzer geworden." Und Thakeray ruft in seinen "Newcomes" triumphi-
rend aus: "Die alte Stadt der Cäsaren, die prächtige Residenz der Päpste
ist mit allem ihrem Glanz und Ceremonien für das Vergnügen der Engländer
eingerichtet. Wir gehen so unbefangen zum Hochamt nach Se. Peter, wie
wir das Feuerwerk in Vauxhall besuchen." Rom ist die toleranteste. Stadt
gegen fremde Gäste, und der Fremde kann hier ebenso nach seiner Fayon
selig werden, wie einst der Preuße.

Wo ist aber sonst eine Aehnlichkeit außer der beliebigen Vorbereitung zur
Seligkeit? Das classische Land der Schulen und Kasernen und das Land der
geistlichen Exercitien sind nicht diametral entgegengesetzt? Die Stadt des
Wissens und die Stadt des Glaubens, die Stadt der Intelligenz und die Stadt
der Autorität, die Stadt des Äoloe iÄr nisnts und der Bettler, die Stadt der
Industrie und des Schwindels, sind sie nicht so verschieden, wie der dunkel¬
blaue durchsichtige Himmel, in dem Rom sich spiegelt, und die graue Sack¬
leinwand, die über unsere Fluren ausgespannt ist? Und doch ist Berlin regel¬
mäßig schön gebaut, nach den Regeln der Symmetrie, hat schnurgerade Stra¬
ßen wie ein Grenadierregiment, so daß kein Haus einen Zoll hervorragen
darf, während Rom an vielen Stellen einem elenden Landstädtchen gleicht,
dessen enge Gassen aus den dürftigsten Hütten bestehen, die oft wie ein
Schwalbennest an alten Ruinen nur angeklebt ist. Dazu der Mangel an
Reinlichkeit, der an jeder Ecke aufgehäufte Unrath, die Leibwäsche^ welche an
den Fenstern getrocknet wird, ist das nicht die höchste Anarchie für einen poli¬
zeilich gut geschulten Berliner?

Man denke sich einen Franciscaner, der in seiner braunen Kutte mit
tellerförmig geschornem Haupte, nicht nur vom Hemdkragen, sondern selbst vom
Hemde emancipirt, Sandalen an den Füßen, auf der berliner Promenade
unter den Linden spazieren geht. Wie wenig paßt er zu den aufgeputzten


lich aus den nördlichen Theilen, ein Hauptcontingent der römischen Fremden
aus. „krussiaric)" ist ein in Rom beliebter Name und das Fest der deut¬
schen Künstler heißt der deutsche Carneval, das einzige Volksfest in Rom, das
von Fremden veranstaltet wird. Man huldigt überhaupt nirgend so sehr
dem Ketzer wie in Rom; die Macht des Katholicismus erscheint an seiner
Quelle nur klein, der Strom wächst erst, je weiter er sich ausbreitet: mit der
Entfernung der Leiber nimmt die Andacht der Seelen zu. während an der
Tiber, wo man die Maschinerie in der Nähe sieht, die Illusionen so leicht
schwinden. Marforio, eine komische Figur aus dem Volke, ein College von
Müller und Schulze, sagt zu seinem Freunde Pasquino: „Ich gehe nach der
Sixtinischen Kapelle, um die Musik zu hören." „Du gehst vergebens", warnt
Pasquino, „die Schweizer und die päpstlichen Cavaliere werden dich stoßen
und dich nicht hineinlassen." „O fürchte nichts, mein Freund, ich bin gestern
ein Ketzer geworden." Und Thakeray ruft in seinen „Newcomes" triumphi-
rend aus: „Die alte Stadt der Cäsaren, die prächtige Residenz der Päpste
ist mit allem ihrem Glanz und Ceremonien für das Vergnügen der Engländer
eingerichtet. Wir gehen so unbefangen zum Hochamt nach Se. Peter, wie
wir das Feuerwerk in Vauxhall besuchen." Rom ist die toleranteste. Stadt
gegen fremde Gäste, und der Fremde kann hier ebenso nach seiner Fayon
selig werden, wie einst der Preuße.

Wo ist aber sonst eine Aehnlichkeit außer der beliebigen Vorbereitung zur
Seligkeit? Das classische Land der Schulen und Kasernen und das Land der
geistlichen Exercitien sind nicht diametral entgegengesetzt? Die Stadt des
Wissens und die Stadt des Glaubens, die Stadt der Intelligenz und die Stadt
der Autorität, die Stadt des Äoloe iÄr nisnts und der Bettler, die Stadt der
Industrie und des Schwindels, sind sie nicht so verschieden, wie der dunkel¬
blaue durchsichtige Himmel, in dem Rom sich spiegelt, und die graue Sack¬
leinwand, die über unsere Fluren ausgespannt ist? Und doch ist Berlin regel¬
mäßig schön gebaut, nach den Regeln der Symmetrie, hat schnurgerade Stra¬
ßen wie ein Grenadierregiment, so daß kein Haus einen Zoll hervorragen
darf, während Rom an vielen Stellen einem elenden Landstädtchen gleicht,
dessen enge Gassen aus den dürftigsten Hütten bestehen, die oft wie ein
Schwalbennest an alten Ruinen nur angeklebt ist. Dazu der Mangel an
Reinlichkeit, der an jeder Ecke aufgehäufte Unrath, die Leibwäsche^ welche an
den Fenstern getrocknet wird, ist das nicht die höchste Anarchie für einen poli¬
zeilich gut geschulten Berliner?

Man denke sich einen Franciscaner, der in seiner braunen Kutte mit
tellerförmig geschornem Haupte, nicht nur vom Hemdkragen, sondern selbst vom
Hemde emancipirt, Sandalen an den Füßen, auf der berliner Promenade
unter den Linden spazieren geht. Wie wenig paßt er zu den aufgeputzten


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[0036] lich aus den nördlichen Theilen, ein Hauptcontingent der römischen Fremden aus. „krussiaric)" ist ein in Rom beliebter Name und das Fest der deut¬ schen Künstler heißt der deutsche Carneval, das einzige Volksfest in Rom, das von Fremden veranstaltet wird. Man huldigt überhaupt nirgend so sehr dem Ketzer wie in Rom; die Macht des Katholicismus erscheint an seiner Quelle nur klein, der Strom wächst erst, je weiter er sich ausbreitet: mit der Entfernung der Leiber nimmt die Andacht der Seelen zu. während an der Tiber, wo man die Maschinerie in der Nähe sieht, die Illusionen so leicht schwinden. Marforio, eine komische Figur aus dem Volke, ein College von Müller und Schulze, sagt zu seinem Freunde Pasquino: „Ich gehe nach der Sixtinischen Kapelle, um die Musik zu hören." „Du gehst vergebens", warnt Pasquino, „die Schweizer und die päpstlichen Cavaliere werden dich stoßen und dich nicht hineinlassen." „O fürchte nichts, mein Freund, ich bin gestern ein Ketzer geworden." Und Thakeray ruft in seinen „Newcomes" triumphi- rend aus: „Die alte Stadt der Cäsaren, die prächtige Residenz der Päpste ist mit allem ihrem Glanz und Ceremonien für das Vergnügen der Engländer eingerichtet. Wir gehen so unbefangen zum Hochamt nach Se. Peter, wie wir das Feuerwerk in Vauxhall besuchen." Rom ist die toleranteste. Stadt gegen fremde Gäste, und der Fremde kann hier ebenso nach seiner Fayon selig werden, wie einst der Preuße. Wo ist aber sonst eine Aehnlichkeit außer der beliebigen Vorbereitung zur Seligkeit? Das classische Land der Schulen und Kasernen und das Land der geistlichen Exercitien sind nicht diametral entgegengesetzt? Die Stadt des Wissens und die Stadt des Glaubens, die Stadt der Intelligenz und die Stadt der Autorität, die Stadt des Äoloe iÄr nisnts und der Bettler, die Stadt der Industrie und des Schwindels, sind sie nicht so verschieden, wie der dunkel¬ blaue durchsichtige Himmel, in dem Rom sich spiegelt, und die graue Sack¬ leinwand, die über unsere Fluren ausgespannt ist? Und doch ist Berlin regel¬ mäßig schön gebaut, nach den Regeln der Symmetrie, hat schnurgerade Stra¬ ßen wie ein Grenadierregiment, so daß kein Haus einen Zoll hervorragen darf, während Rom an vielen Stellen einem elenden Landstädtchen gleicht, dessen enge Gassen aus den dürftigsten Hütten bestehen, die oft wie ein Schwalbennest an alten Ruinen nur angeklebt ist. Dazu der Mangel an Reinlichkeit, der an jeder Ecke aufgehäufte Unrath, die Leibwäsche^ welche an den Fenstern getrocknet wird, ist das nicht die höchste Anarchie für einen poli¬ zeilich gut geschulten Berliner? Man denke sich einen Franciscaner, der in seiner braunen Kutte mit tellerförmig geschornem Haupte, nicht nur vom Hemdkragen, sondern selbst vom Hemde emancipirt, Sandalen an den Füßen, auf der berliner Promenade unter den Linden spazieren geht. Wie wenig paßt er zu den aufgeputzten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/36>, abgerufen am 12.05.2024.