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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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noza einen Auszug aus den Werken des Philosophen Bruna gab, worin das
Jdentitätsystem des Göttlichen und Natürlichen mit großer Phantasie ent¬
wickelt war; auch Kant hatte in seinen metaphysischen Anfangsgründen der
Naturwissenschaft dem bestehenden mechanischen System das dynamische ent¬
gegengesetzt.

Hier war nun für Schelling ein vollkommen unbeackertes Feld, da Fichte,
dem für die Natur alles Verständniß abging, dieser Seite der Wissenschaft keine
Aufmerksamkeit zuwandte. Gleich nach seiner Ankunft in Leipzig warf sich
Schelling mit großem Eifer auf das Studium der Naturwissenschaft. Nun
mag man noch so begabt sein, in einem Jahr wird man das ungeheure Ge¬
biet dieser Wissenschaft mit wissenschaftlicher Strenge nicht durchmessen können.
Schelling faßte also vorzugsweise die neuen Entdeckungen ins Auge und
machte es hier grade wie aus dem Gebiet der kritischen Philosophie: er über¬
sah mit schneller Auffassung den entscheidenden und charakteristischen Punkt,
erweiterte ihn durch tiefe Combination nach allen Seiten hin und gab ihm
dann einen plastischen und beredten Ausdruck. Seine Lectüre war in der That
sehr umfassend, und bei seiner Virtuosität im Lesen hatte er eine unerschöpfliche
Fülle naturhistorischer Vorstellungen in seinem Geist gegenwärtig. Haupt¬
sächlich waren es aber zwei Schriften, die ihm für seinen Stoff die Form
gaben: Kielmeicrs Abhandlung über das Verhältniß der organischen Kräfte
untereinander in der Reihe der verschiedenen Organisation 1793, und Eschen¬
mayers Versuch, einige Principien der Naturwissenschaft, insbesondere der
Chemie aus der Metaphysik herzuleiten. Dies waren die Elemente, aus denen
seine Ideen zu einer Philosophie der Natur 1 797 hervorgingen.

In der Einleitung gibt er gewissermaßen eine historische Uebersicht, wie
der denkende Mensch das Gebiet der Natur mit dem Gebiet des Geistes in
Uebereinstimmung zu bringen gesucht hat, die mechanische, dynamische und
organische Auffassung folgen aufeinander, das Problem steht fest: die Natur
soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein. Um dies Pro¬
blem zu lösen, muß man zuerst von den empirischen Gesetzen ausgehn und
sie allmälig ins geistige Gebiet zu erheben suchen.

Es werden nun in einzelnen Absätzen die alten und neuen Theorien über
Licht und Wärme, Elektricität und Magnetismus u. s. w. besprochen, durch¬
weg mit dem Bemühn, die entgegenstehenden Ansichten auf einem höhern Stand¬
punkt möglichst zu versöhnen. Das Mißliche dieses Versuchs liegt darin, daß
er nicht von einem wirklichen Physiker angestellt wird, dem zur Controle seiner
Hypothesen alle Einzelheiten des Naturzusammenhanges völlig gegenwärtig
sind, sondern von einem speculativen Kopf, der sich die Gesetze nur in ihrer
letzten Abstraction, also äußerlich hat überliefern lassen und der mitunter etwas
ganz Anderes darunter versteht, als der ursprüngliche Forscher hat sagen wollen-


noza einen Auszug aus den Werken des Philosophen Bruna gab, worin das
Jdentitätsystem des Göttlichen und Natürlichen mit großer Phantasie ent¬
wickelt war; auch Kant hatte in seinen metaphysischen Anfangsgründen der
Naturwissenschaft dem bestehenden mechanischen System das dynamische ent¬
gegengesetzt.

Hier war nun für Schelling ein vollkommen unbeackertes Feld, da Fichte,
dem für die Natur alles Verständniß abging, dieser Seite der Wissenschaft keine
Aufmerksamkeit zuwandte. Gleich nach seiner Ankunft in Leipzig warf sich
Schelling mit großem Eifer auf das Studium der Naturwissenschaft. Nun
mag man noch so begabt sein, in einem Jahr wird man das ungeheure Ge¬
biet dieser Wissenschaft mit wissenschaftlicher Strenge nicht durchmessen können.
Schelling faßte also vorzugsweise die neuen Entdeckungen ins Auge und
machte es hier grade wie aus dem Gebiet der kritischen Philosophie: er über¬
sah mit schneller Auffassung den entscheidenden und charakteristischen Punkt,
erweiterte ihn durch tiefe Combination nach allen Seiten hin und gab ihm
dann einen plastischen und beredten Ausdruck. Seine Lectüre war in der That
sehr umfassend, und bei seiner Virtuosität im Lesen hatte er eine unerschöpfliche
Fülle naturhistorischer Vorstellungen in seinem Geist gegenwärtig. Haupt¬
sächlich waren es aber zwei Schriften, die ihm für seinen Stoff die Form
gaben: Kielmeicrs Abhandlung über das Verhältniß der organischen Kräfte
untereinander in der Reihe der verschiedenen Organisation 1793, und Eschen¬
mayers Versuch, einige Principien der Naturwissenschaft, insbesondere der
Chemie aus der Metaphysik herzuleiten. Dies waren die Elemente, aus denen
seine Ideen zu einer Philosophie der Natur 1 797 hervorgingen.

In der Einleitung gibt er gewissermaßen eine historische Uebersicht, wie
der denkende Mensch das Gebiet der Natur mit dem Gebiet des Geistes in
Uebereinstimmung zu bringen gesucht hat, die mechanische, dynamische und
organische Auffassung folgen aufeinander, das Problem steht fest: die Natur
soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein. Um dies Pro¬
blem zu lösen, muß man zuerst von den empirischen Gesetzen ausgehn und
sie allmälig ins geistige Gebiet zu erheben suchen.

Es werden nun in einzelnen Absätzen die alten und neuen Theorien über
Licht und Wärme, Elektricität und Magnetismus u. s. w. besprochen, durch¬
weg mit dem Bemühn, die entgegenstehenden Ansichten auf einem höhern Stand¬
punkt möglichst zu versöhnen. Das Mißliche dieses Versuchs liegt darin, daß
er nicht von einem wirklichen Physiker angestellt wird, dem zur Controle seiner
Hypothesen alle Einzelheiten des Naturzusammenhanges völlig gegenwärtig
sind, sondern von einem speculativen Kopf, der sich die Gesetze nur in ihrer
letzten Abstraction, also äußerlich hat überliefern lassen und der mitunter etwas
ganz Anderes darunter versteht, als der ursprüngliche Forscher hat sagen wollen-


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[0064] noza einen Auszug aus den Werken des Philosophen Bruna gab, worin das Jdentitätsystem des Göttlichen und Natürlichen mit großer Phantasie ent¬ wickelt war; auch Kant hatte in seinen metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft dem bestehenden mechanischen System das dynamische ent¬ gegengesetzt. Hier war nun für Schelling ein vollkommen unbeackertes Feld, da Fichte, dem für die Natur alles Verständniß abging, dieser Seite der Wissenschaft keine Aufmerksamkeit zuwandte. Gleich nach seiner Ankunft in Leipzig warf sich Schelling mit großem Eifer auf das Studium der Naturwissenschaft. Nun mag man noch so begabt sein, in einem Jahr wird man das ungeheure Ge¬ biet dieser Wissenschaft mit wissenschaftlicher Strenge nicht durchmessen können. Schelling faßte also vorzugsweise die neuen Entdeckungen ins Auge und machte es hier grade wie aus dem Gebiet der kritischen Philosophie: er über¬ sah mit schneller Auffassung den entscheidenden und charakteristischen Punkt, erweiterte ihn durch tiefe Combination nach allen Seiten hin und gab ihm dann einen plastischen und beredten Ausdruck. Seine Lectüre war in der That sehr umfassend, und bei seiner Virtuosität im Lesen hatte er eine unerschöpfliche Fülle naturhistorischer Vorstellungen in seinem Geist gegenwärtig. Haupt¬ sächlich waren es aber zwei Schriften, die ihm für seinen Stoff die Form gaben: Kielmeicrs Abhandlung über das Verhältniß der organischen Kräfte untereinander in der Reihe der verschiedenen Organisation 1793, und Eschen¬ mayers Versuch, einige Principien der Naturwissenschaft, insbesondere der Chemie aus der Metaphysik herzuleiten. Dies waren die Elemente, aus denen seine Ideen zu einer Philosophie der Natur 1 797 hervorgingen. In der Einleitung gibt er gewissermaßen eine historische Uebersicht, wie der denkende Mensch das Gebiet der Natur mit dem Gebiet des Geistes in Uebereinstimmung zu bringen gesucht hat, die mechanische, dynamische und organische Auffassung folgen aufeinander, das Problem steht fest: die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein. Um dies Pro¬ blem zu lösen, muß man zuerst von den empirischen Gesetzen ausgehn und sie allmälig ins geistige Gebiet zu erheben suchen. Es werden nun in einzelnen Absätzen die alten und neuen Theorien über Licht und Wärme, Elektricität und Magnetismus u. s. w. besprochen, durch¬ weg mit dem Bemühn, die entgegenstehenden Ansichten auf einem höhern Stand¬ punkt möglichst zu versöhnen. Das Mißliche dieses Versuchs liegt darin, daß er nicht von einem wirklichen Physiker angestellt wird, dem zur Controle seiner Hypothesen alle Einzelheiten des Naturzusammenhanges völlig gegenwärtig sind, sondern von einem speculativen Kopf, der sich die Gesetze nur in ihrer letzten Abstraction, also äußerlich hat überliefern lassen und der mitunter etwas ganz Anderes darunter versteht, als der ursprüngliche Forscher hat sagen wollen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/64>, abgerufen am 09.06.2024.