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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Kunst läßt sich leichter lügen. Man sieht dies am deutlichsten, wo fromme
Gefühle geschildert werden sollen. So wars ein wirklicher Schauder von
frommer Scheu, der den leichtlebigen Rossini anwandelte, als er. nach einer
tollen Nacht zwischen zerschlagenen Pokalen und zerpflückten Bacchuskränzen
auf weinklebrigem Parketboden im Morgengrauen erwachend, das Gebet seiner
Oper Moses niederschrieb, wenn er auch dabei seinem Naturell gemäß in den
Ton einer venetianischen Romanze verfiel. Aber aller Kunstschweiß hat dem
Stradella des Herrn von Flotow in seinem Marienliede keine Spur von hei¬
liger Empfindung einzuflößen vermocht. Es geht einmal nicht; die Musik hat
zu wenig Maske.

Nun aber finden wir schon seit mehren Jahrzehnten in ganz Italien weder
Componisten. welche im wirklichen Sinne des Worts heilige Musik zu schrei¬
ben unternähmen, noch auch Zuhörer, denen die vorhandenen Compositionen
aus guter Zeit zum Herzen klängen. Seit der ausgezeichnete Sonderling
Philipp von Neri die Congregation der Priester des Oratoriums stiftete und
den Geschmack am Drama durch das kirchliche Oratorium zu verdrängen suchte,
seitdem hat man von Jahrhundert zu Jahrhundert Anstrengungen gemacht,
um der gefährlichen Nebenbuhlerin, der Oper, ihre Anziehungskraft zu nehmen,
Cepa, Pariati, Orsini, Zeno, Spagna, endlich sogar Metastasio. haben Texte
für Oratorien zusammengetragen, und nach Emilio da Cavalieres Porgang
haben Leo, Jomelli. Buononcini und andere, Caldara nicht zu vergessen, für
diese Texte die Musik geliefert; aber immer mehr ist man dem Opernstil nahe
gekommen, und endlich haben sich die Kirchenpforten den Opcrmnelodien selbst
aufgethan; nur ein Schritt noch weiter und die Opernbühne verlegt sich ganz
dahin, von wo aus man die gefürchtete Feindin so lange bekriegte. Es fehlt
nicht an dem guten Willen.

Wir finden zu den vielen Belegen hierfür, welche wir an Ort und Stelle
in mußevollstem Umherschauen sammelten, unter andern eine Notiz in Kestncrs
römischen Studien, die unsern Gegenstand ergötzlich beleuchtet. Kestner, trotz
seiner diplomatischen Stellung in Rom fortwährend mit Künstlern aller Zweige
im collegialischesten Zusammenhange, wurde eines Morgens von einem befreun¬
deten Italiener mit einem Besuch überfallen, als der Sohn Lottens sich eben
mit der Buffoarie "non xiü a-Mi-al ?Al-tÄ1Ioris amoroso!" abmühte. Der
Italiener war Chordirigent der Franciscanerkirche zu Frascati. "Was zum
Teufel singen Sie da?" rief er dem andern entgegen. "Nichts für Sie" ent-
gegnete Kestner. "Späße eines lockern Barbiers über einen verliebten Pagen;
haben Sie nie von Figaro gehört?" -- "Niemals! aber die Arie taugt vor¬
trefflich für eine meiner Messen, es fehlte mir grade noch das tAoria. w
exoslsis."

Und er endlich den kostbaren Fund, um die lustige Arie wirklich in


Kunst läßt sich leichter lügen. Man sieht dies am deutlichsten, wo fromme
Gefühle geschildert werden sollen. So wars ein wirklicher Schauder von
frommer Scheu, der den leichtlebigen Rossini anwandelte, als er. nach einer
tollen Nacht zwischen zerschlagenen Pokalen und zerpflückten Bacchuskränzen
auf weinklebrigem Parketboden im Morgengrauen erwachend, das Gebet seiner
Oper Moses niederschrieb, wenn er auch dabei seinem Naturell gemäß in den
Ton einer venetianischen Romanze verfiel. Aber aller Kunstschweiß hat dem
Stradella des Herrn von Flotow in seinem Marienliede keine Spur von hei¬
liger Empfindung einzuflößen vermocht. Es geht einmal nicht; die Musik hat
zu wenig Maske.

Nun aber finden wir schon seit mehren Jahrzehnten in ganz Italien weder
Componisten. welche im wirklichen Sinne des Worts heilige Musik zu schrei¬
ben unternähmen, noch auch Zuhörer, denen die vorhandenen Compositionen
aus guter Zeit zum Herzen klängen. Seit der ausgezeichnete Sonderling
Philipp von Neri die Congregation der Priester des Oratoriums stiftete und
den Geschmack am Drama durch das kirchliche Oratorium zu verdrängen suchte,
seitdem hat man von Jahrhundert zu Jahrhundert Anstrengungen gemacht,
um der gefährlichen Nebenbuhlerin, der Oper, ihre Anziehungskraft zu nehmen,
Cepa, Pariati, Orsini, Zeno, Spagna, endlich sogar Metastasio. haben Texte
für Oratorien zusammengetragen, und nach Emilio da Cavalieres Porgang
haben Leo, Jomelli. Buononcini und andere, Caldara nicht zu vergessen, für
diese Texte die Musik geliefert; aber immer mehr ist man dem Opernstil nahe
gekommen, und endlich haben sich die Kirchenpforten den Opcrmnelodien selbst
aufgethan; nur ein Schritt noch weiter und die Opernbühne verlegt sich ganz
dahin, von wo aus man die gefürchtete Feindin so lange bekriegte. Es fehlt
nicht an dem guten Willen.

Wir finden zu den vielen Belegen hierfür, welche wir an Ort und Stelle
in mußevollstem Umherschauen sammelten, unter andern eine Notiz in Kestncrs
römischen Studien, die unsern Gegenstand ergötzlich beleuchtet. Kestner, trotz
seiner diplomatischen Stellung in Rom fortwährend mit Künstlern aller Zweige
im collegialischesten Zusammenhange, wurde eines Morgens von einem befreun¬
deten Italiener mit einem Besuch überfallen, als der Sohn Lottens sich eben
mit der Buffoarie „non xiü a-Mi-al ?Al-tÄ1Ioris amoroso!" abmühte. Der
Italiener war Chordirigent der Franciscanerkirche zu Frascati. „Was zum
Teufel singen Sie da?" rief er dem andern entgegen. „Nichts für Sie" ent-
gegnete Kestner. „Späße eines lockern Barbiers über einen verliebten Pagen;
haben Sie nie von Figaro gehört?" — „Niemals! aber die Arie taugt vor¬
trefflich für eine meiner Messen, es fehlte mir grade noch das tAoria. w
exoslsis."

Und er endlich den kostbaren Fund, um die lustige Arie wirklich in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/86>, abgerufen am 31.05.2024.