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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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uns das Denken und die Erfahrung, die Gesetze der praktischen Vernunft
offenbart uns das Gewissen. Die Menschen können zu verschiedenen Zeiten
gegen die einen wie gegen die andern Geseße gefehlt haben; aber das Wesen,
welches wir als den ewigen Träger der Weltvernunft betrachten, Gott, kann
sich nicht widersprechen: er kann sein Gesetz nicht aufheben; er kann nicht in
irgend einer Zeit als Recht offenbart haben, was er in seiner ewigen, jeden
Tag erneuten Offenbarung, im Gewissen, als Unrecht brandmarkt.

Betrachtet man dieses Glaubenssystem im Interesse der Wissenschaft, so
steht man leicht, daß die eine mit dem andern steht oder fällt. Wären die
Denkgesetze oder, was dasselbe heißt, die Naturgesetze nicht ewig unveränder¬
lich, so wäre jede Wissenschaft eine armselige Spielerei, denn jede Wis-'
herschaft hat es mit Gesetzen zu thun, und das Naturgesetz hört auf, sobald
es auch nur eine einzige Ausnahme gestattet. Nicht besser wäre es mit der
Sittlichkeit bestellt, denn sobald das Gewissen, welches mich mit untrüglicher
Stimme gegen mein eigenes besseres Selbst und damit gegen Gott verpflichtet,
aufhört das letzte entscheidende Wort zu führen, sobald eine äußere Autorität
wir meine Pflichten auflegt, so ist das Motiv meines pflichtmäßigen Handelns
nur noch Furcht vor einem starkem, nicht mehr Glaube an ein höheres We¬
sen. Es mag klug und weise sein, wenn man aus Furcht vor den Höllcn-
stwfen dies oder jenes unterläßt, aber von Sittlichkeit ist dabei keine Rede
wehr, sobald man das zu Unterlassende nicht innerlich als ein Unrecht em-
pfindet.

Die echten Supranaturalisten -- d. h. die an ein ewiges Natur- und
Sittengesetz nicht glauben -- haben sich, wenn sie consequent waren, auch stets
Wit gründlicher Verachtung über die Wissenschaft und über die Sittlichkeit ans-
Kesprochen. Freilich ist diese Consequenz in unsern Tagen selten, und das
'se immer noch ein Trost: denn ein Mangel an Logik und Charakter ist noch
erträglicher als eine völlige Verderbniss des Geistes und des Herzens.

Um nun sogleich den Grundirrthum zu bezeichnen, in welchen der histo¬
rische Nationalismus im Gegensatz zum begrifflichen verfiel, nehmen wir seine
Auffassung der Geschichte zur Hand. In der richtigen Ueberzeugung von der
Ewigkeit und Unveränderlichkeit des objectiven Dcnkgcsetzes war er leicht ge¬
zeigt, den Wandel zu vergessen, dem das subjective Denken ausgesetzt ist.
>>ndem es ihm zunächst darauf ankam, in Bezug auf das Christenthum die
Einheit der Vernunft herzustellen. that er den christlichen Urkunden Gewalt
^U: er suchte in ihnen unsere eigne Empsindungs- und Anschauungsweise wieder¬
zufinden. Es sind hier wirklich sehr arge Mißverständnisse vorgekommen, aber
einmal trifft der Vorwurf nicht den gesammten Rationalismus. Man darf
ö' B. nicht Paulus mit Kant verwechseln. Paulus interpretirte im baaren
^use die von der Bibel berichteten Wunder und die unserm Gefühl wider-


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uns das Denken und die Erfahrung, die Gesetze der praktischen Vernunft
offenbart uns das Gewissen. Die Menschen können zu verschiedenen Zeiten
gegen die einen wie gegen die andern Geseße gefehlt haben; aber das Wesen,
welches wir als den ewigen Träger der Weltvernunft betrachten, Gott, kann
sich nicht widersprechen: er kann sein Gesetz nicht aufheben; er kann nicht in
irgend einer Zeit als Recht offenbart haben, was er in seiner ewigen, jeden
Tag erneuten Offenbarung, im Gewissen, als Unrecht brandmarkt.

Betrachtet man dieses Glaubenssystem im Interesse der Wissenschaft, so
steht man leicht, daß die eine mit dem andern steht oder fällt. Wären die
Denkgesetze oder, was dasselbe heißt, die Naturgesetze nicht ewig unveränder¬
lich, so wäre jede Wissenschaft eine armselige Spielerei, denn jede Wis-'
herschaft hat es mit Gesetzen zu thun, und das Naturgesetz hört auf, sobald
es auch nur eine einzige Ausnahme gestattet. Nicht besser wäre es mit der
Sittlichkeit bestellt, denn sobald das Gewissen, welches mich mit untrüglicher
Stimme gegen mein eigenes besseres Selbst und damit gegen Gott verpflichtet,
aufhört das letzte entscheidende Wort zu führen, sobald eine äußere Autorität
wir meine Pflichten auflegt, so ist das Motiv meines pflichtmäßigen Handelns
nur noch Furcht vor einem starkem, nicht mehr Glaube an ein höheres We¬
sen. Es mag klug und weise sein, wenn man aus Furcht vor den Höllcn-
stwfen dies oder jenes unterläßt, aber von Sittlichkeit ist dabei keine Rede
wehr, sobald man das zu Unterlassende nicht innerlich als ein Unrecht em-
pfindet.

Die echten Supranaturalisten — d. h. die an ein ewiges Natur- und
Sittengesetz nicht glauben — haben sich, wenn sie consequent waren, auch stets
Wit gründlicher Verachtung über die Wissenschaft und über die Sittlichkeit ans-
Kesprochen. Freilich ist diese Consequenz in unsern Tagen selten, und das
'se immer noch ein Trost: denn ein Mangel an Logik und Charakter ist noch
erträglicher als eine völlige Verderbniss des Geistes und des Herzens.

Um nun sogleich den Grundirrthum zu bezeichnen, in welchen der histo¬
rische Nationalismus im Gegensatz zum begrifflichen verfiel, nehmen wir seine
Auffassung der Geschichte zur Hand. In der richtigen Ueberzeugung von der
Ewigkeit und Unveränderlichkeit des objectiven Dcnkgcsetzes war er leicht ge¬
zeigt, den Wandel zu vergessen, dem das subjective Denken ausgesetzt ist.
>>ndem es ihm zunächst darauf ankam, in Bezug auf das Christenthum die
Einheit der Vernunft herzustellen. that er den christlichen Urkunden Gewalt
^U: er suchte in ihnen unsere eigne Empsindungs- und Anschauungsweise wieder¬
zufinden. Es sind hier wirklich sehr arge Mißverständnisse vorgekommen, aber
einmal trifft der Vorwurf nicht den gesammten Rationalismus. Man darf
ö' B. nicht Paulus mit Kant verwechseln. Paulus interpretirte im baaren
^use die von der Bibel berichteten Wunder und die unserm Gefühl wider-


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[0135] uns das Denken und die Erfahrung, die Gesetze der praktischen Vernunft offenbart uns das Gewissen. Die Menschen können zu verschiedenen Zeiten gegen die einen wie gegen die andern Geseße gefehlt haben; aber das Wesen, welches wir als den ewigen Träger der Weltvernunft betrachten, Gott, kann sich nicht widersprechen: er kann sein Gesetz nicht aufheben; er kann nicht in irgend einer Zeit als Recht offenbart haben, was er in seiner ewigen, jeden Tag erneuten Offenbarung, im Gewissen, als Unrecht brandmarkt. Betrachtet man dieses Glaubenssystem im Interesse der Wissenschaft, so steht man leicht, daß die eine mit dem andern steht oder fällt. Wären die Denkgesetze oder, was dasselbe heißt, die Naturgesetze nicht ewig unveränder¬ lich, so wäre jede Wissenschaft eine armselige Spielerei, denn jede Wis-' herschaft hat es mit Gesetzen zu thun, und das Naturgesetz hört auf, sobald es auch nur eine einzige Ausnahme gestattet. Nicht besser wäre es mit der Sittlichkeit bestellt, denn sobald das Gewissen, welches mich mit untrüglicher Stimme gegen mein eigenes besseres Selbst und damit gegen Gott verpflichtet, aufhört das letzte entscheidende Wort zu führen, sobald eine äußere Autorität wir meine Pflichten auflegt, so ist das Motiv meines pflichtmäßigen Handelns nur noch Furcht vor einem starkem, nicht mehr Glaube an ein höheres We¬ sen. Es mag klug und weise sein, wenn man aus Furcht vor den Höllcn- stwfen dies oder jenes unterläßt, aber von Sittlichkeit ist dabei keine Rede wehr, sobald man das zu Unterlassende nicht innerlich als ein Unrecht em- pfindet. Die echten Supranaturalisten — d. h. die an ein ewiges Natur- und Sittengesetz nicht glauben — haben sich, wenn sie consequent waren, auch stets Wit gründlicher Verachtung über die Wissenschaft und über die Sittlichkeit ans- Kesprochen. Freilich ist diese Consequenz in unsern Tagen selten, und das 'se immer noch ein Trost: denn ein Mangel an Logik und Charakter ist noch erträglicher als eine völlige Verderbniss des Geistes und des Herzens. Um nun sogleich den Grundirrthum zu bezeichnen, in welchen der histo¬ rische Nationalismus im Gegensatz zum begrifflichen verfiel, nehmen wir seine Auffassung der Geschichte zur Hand. In der richtigen Ueberzeugung von der Ewigkeit und Unveränderlichkeit des objectiven Dcnkgcsetzes war er leicht ge¬ zeigt, den Wandel zu vergessen, dem das subjective Denken ausgesetzt ist. >>ndem es ihm zunächst darauf ankam, in Bezug auf das Christenthum die Einheit der Vernunft herzustellen. that er den christlichen Urkunden Gewalt ^U: er suchte in ihnen unsere eigne Empsindungs- und Anschauungsweise wieder¬ zufinden. Es sind hier wirklich sehr arge Mißverständnisse vorgekommen, aber einmal trifft der Vorwurf nicht den gesammten Rationalismus. Man darf ö' B. nicht Paulus mit Kant verwechseln. Paulus interpretirte im baaren ^use die von der Bibel berichteten Wunder und die unserm Gefühl wider- 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/135>, abgerufen am 14.06.2024.