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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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reicheren Modulationen spielt: aber das Gemüth objectiv in die wirkliche
Welt des Lebens zu projiciren, hat er nur selten versucht. Daß er es steilich
vermochte, zeigt "Herrmann und^-Dorothea". Das deutsche Gemüth ist, wo
es nicht irre geleitet wird, ernst bis zum Argwohn, nur dem Gläubigen gibt
es sich hin, aber diesem unbedingt. Freilich war Schiller nicht blos ein
Gläubiger im vollsten Sinne des Worts, sondern auch ein großer Dichter,
der Glaube allein würde es nicht thun.

Der nationalste Dichter der Deutschen ist nicht derjenige, der die mittel¬
alterlichen Rüstungen am deutlichsten malt, sondern derjenige, der den ethischen
Kern des Volkslebens am kräftigsten berührt. Man hat den Deutschen die
Fähigkeit zur Politik abgesprochen und bis jetzt haben sie sich freilich unge¬
schickt genug aus diesem Felde bewegt; sie können nicht anders handeln, als
aus vollem Gemüth heraus, im Zwange des Glaubens. Sich schnell in die
Zustände zu finden und nach ihnen das Maaß des Handelns zu nehmen, ist
ihre Sache nicht. Aber stellt ihrem Gemüth das Verhältniß des Guten zum
Bösen sinnlich, handgreiflich vor, daß sie sehen und glauben; schlagt die Saite
an, die in dem ganzen Pulsschlag ihres Herzens widerklingt, so wird es an
Muth, an Aufopferung und an Entschlossenheit nicht fehlen und es wird, im
Gegensatz zu den romanischen Völkern, die heute ein Haus aufrichten, um es
morgen einzurcißeu, jene zähe Ausdauer der bürgerlichen Arbeit hinzukommen,
die bereits Welttheile für die Kultur erobert hat. Auch dieser Gedanke, der
kein flüchtiger Traum, sondern ein unerschütterlicher Glaube ist, möge das
I. S. Schillerfest beleben.




reicheren Modulationen spielt: aber das Gemüth objectiv in die wirkliche
Welt des Lebens zu projiciren, hat er nur selten versucht. Daß er es steilich
vermochte, zeigt „Herrmann und^-Dorothea". Das deutsche Gemüth ist, wo
es nicht irre geleitet wird, ernst bis zum Argwohn, nur dem Gläubigen gibt
es sich hin, aber diesem unbedingt. Freilich war Schiller nicht blos ein
Gläubiger im vollsten Sinne des Worts, sondern auch ein großer Dichter,
der Glaube allein würde es nicht thun.

Der nationalste Dichter der Deutschen ist nicht derjenige, der die mittel¬
alterlichen Rüstungen am deutlichsten malt, sondern derjenige, der den ethischen
Kern des Volkslebens am kräftigsten berührt. Man hat den Deutschen die
Fähigkeit zur Politik abgesprochen und bis jetzt haben sie sich freilich unge¬
schickt genug aus diesem Felde bewegt; sie können nicht anders handeln, als
aus vollem Gemüth heraus, im Zwange des Glaubens. Sich schnell in die
Zustände zu finden und nach ihnen das Maaß des Handelns zu nehmen, ist
ihre Sache nicht. Aber stellt ihrem Gemüth das Verhältniß des Guten zum
Bösen sinnlich, handgreiflich vor, daß sie sehen und glauben; schlagt die Saite
an, die in dem ganzen Pulsschlag ihres Herzens widerklingt, so wird es an
Muth, an Aufopferung und an Entschlossenheit nicht fehlen und es wird, im
Gegensatz zu den romanischen Völkern, die heute ein Haus aufrichten, um es
morgen einzurcißeu, jene zähe Ausdauer der bürgerlichen Arbeit hinzukommen,
die bereits Welttheile für die Kultur erobert hat. Auch dieser Gedanke, der
kein flüchtiger Traum, sondern ein unerschütterlicher Glaube ist, möge das
I. S. Schillerfest beleben.




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[0256] reicheren Modulationen spielt: aber das Gemüth objectiv in die wirkliche Welt des Lebens zu projiciren, hat er nur selten versucht. Daß er es steilich vermochte, zeigt „Herrmann und^-Dorothea". Das deutsche Gemüth ist, wo es nicht irre geleitet wird, ernst bis zum Argwohn, nur dem Gläubigen gibt es sich hin, aber diesem unbedingt. Freilich war Schiller nicht blos ein Gläubiger im vollsten Sinne des Worts, sondern auch ein großer Dichter, der Glaube allein würde es nicht thun. Der nationalste Dichter der Deutschen ist nicht derjenige, der die mittel¬ alterlichen Rüstungen am deutlichsten malt, sondern derjenige, der den ethischen Kern des Volkslebens am kräftigsten berührt. Man hat den Deutschen die Fähigkeit zur Politik abgesprochen und bis jetzt haben sie sich freilich unge¬ schickt genug aus diesem Felde bewegt; sie können nicht anders handeln, als aus vollem Gemüth heraus, im Zwange des Glaubens. Sich schnell in die Zustände zu finden und nach ihnen das Maaß des Handelns zu nehmen, ist ihre Sache nicht. Aber stellt ihrem Gemüth das Verhältniß des Guten zum Bösen sinnlich, handgreiflich vor, daß sie sehen und glauben; schlagt die Saite an, die in dem ganzen Pulsschlag ihres Herzens widerklingt, so wird es an Muth, an Aufopferung und an Entschlossenheit nicht fehlen und es wird, im Gegensatz zu den romanischen Völkern, die heute ein Haus aufrichten, um es morgen einzurcißeu, jene zähe Ausdauer der bürgerlichen Arbeit hinzukommen, die bereits Welttheile für die Kultur erobert hat. Auch dieser Gedanke, der kein flüchtiger Traum, sondern ein unerschütterlicher Glaube ist, möge das I. S. Schillerfest beleben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/256>, abgerufen am 21.05.2024.