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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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büßen, so verlangen Annettens Gedichte die schärfste Aufmerksamkeit auf jedes
einzelne Wort, und auch dann ist man noch nicht sicher, sie ganz zu ver¬
stehen. Die einzelnen Anschauungen treten ihr so schnell und in so scharfem
Licht, so blitzartig vor die Seele, daß sie nicht Muße hat, sie gehörig zu
formen. Aber es sind wirkliche Gesichte, nicht etwa Reminiscenzen aus
früherer Lectüre; es sind starke individuelle Empfindungen, und nicht etwa
allgemeine Gefühls-Abstractionen. ,

Der Stifter dieser Schule des Liedes ist Victor Hugo: man nennt sie
bei den Franzosen die romantische, unter welchem Ausdruck jenseits des Rheins
aber ganz etwas anders, ja mitunter das Gegentheil verstanden wird als bei
uns. Das Motiv der Schule war Auflehnung gegen die akademische Form
und gegen die stofflose, uns einer Convenienz des Gefühls beruhende Em¬
pfindung: Sehnsucht nach handgreiflicher, eckiger Realität. Daher an Stelle
der zierlichen Umschreibung das derbste, wo möglich anstößigste Wort; an Stelle
des glatten musikalischen Verses ein zerhackter Strophenbau; an Stelle des all¬
gemeinen, nützlichen und dem Gemeinwohl zusagenden Gedankens die origi¬
nelle, oft ganz unvermittelte und ziellose Anschauung; an Stelle der Melodie das
Bild. In der frühern Lyrik war das Bild, die Plastik nur Mittel, nicht
Zweck, es sollte die Stimmung begründen oder den Gedanken erläutern; bei
V. Hugo und seiner Schule ist Farbe und Umriß das erste und letzte. Fi"
einen, der an die alte Weise gewöhnt ist, hat diese Bilderpracht zuweilen et¬
was Verblüffendes, wenn sie in dem Augenblick abbricht, wo man die
Nutzanwendung erwartet.

In Deutschland sind außer Annette Anastasius Grün, Lenau und Fm-
ligrath die Vertreter dieser Richtung; Heine nicht, weil bei ihm stets die
Melodie das Bild, der Gedanke den Einfall beherrschte. Bei der scheinbaren
Willkür in seinen Gedankensprüngen weiß er doch überall, was er will; er
ist Herr über seine Geister. Daß sie das nicht sind, ist eben die Eigenthüm¬
lichkeit jener Dichter.,

Man verwechsle diese moderne Plastik der Poesie nicht etwa mit dem
alten beschreibenden Gedicht. Hier sah man sich wohlgefällig nach Farbe und
Gestalt in der Natur um, wählte sorgfältig das Passende und fügte so sei"
eigenes Ideal zusammen: dort sind es die Geister der Farben und Gestalten,
die mit magischer Macht ans die Seele des Dichters eindringen, wie Frei-
ligraths Blumengeister auf das schlafende Mädchen, beängstigend, peinlich-
und ihn zwingen, dem Eindruck Worte zu geben. Wenn man in bedeuten¬
der Höhe in einem Alpenkcssel eingeschlossen ist. kommt es einer nervös em¬
pfindlichen Natur zuweilen so vor, als ob die düstern Bergriesen immer nä¬
her rücken und auf den beängstigten Menschen losgehen: diese Macht übt
auf diese Dichter die gesammte Natur aus: givv me- a soul! oft sie ihnen


büßen, so verlangen Annettens Gedichte die schärfste Aufmerksamkeit auf jedes
einzelne Wort, und auch dann ist man noch nicht sicher, sie ganz zu ver¬
stehen. Die einzelnen Anschauungen treten ihr so schnell und in so scharfem
Licht, so blitzartig vor die Seele, daß sie nicht Muße hat, sie gehörig zu
formen. Aber es sind wirkliche Gesichte, nicht etwa Reminiscenzen aus
früherer Lectüre; es sind starke individuelle Empfindungen, und nicht etwa
allgemeine Gefühls-Abstractionen. ,

Der Stifter dieser Schule des Liedes ist Victor Hugo: man nennt sie
bei den Franzosen die romantische, unter welchem Ausdruck jenseits des Rheins
aber ganz etwas anders, ja mitunter das Gegentheil verstanden wird als bei
uns. Das Motiv der Schule war Auflehnung gegen die akademische Form
und gegen die stofflose, uns einer Convenienz des Gefühls beruhende Em¬
pfindung: Sehnsucht nach handgreiflicher, eckiger Realität. Daher an Stelle
der zierlichen Umschreibung das derbste, wo möglich anstößigste Wort; an Stelle
des glatten musikalischen Verses ein zerhackter Strophenbau; an Stelle des all¬
gemeinen, nützlichen und dem Gemeinwohl zusagenden Gedankens die origi¬
nelle, oft ganz unvermittelte und ziellose Anschauung; an Stelle der Melodie das
Bild. In der frühern Lyrik war das Bild, die Plastik nur Mittel, nicht
Zweck, es sollte die Stimmung begründen oder den Gedanken erläutern; bei
V. Hugo und seiner Schule ist Farbe und Umriß das erste und letzte. Fi"
einen, der an die alte Weise gewöhnt ist, hat diese Bilderpracht zuweilen et¬
was Verblüffendes, wenn sie in dem Augenblick abbricht, wo man die
Nutzanwendung erwartet.

In Deutschland sind außer Annette Anastasius Grün, Lenau und Fm-
ligrath die Vertreter dieser Richtung; Heine nicht, weil bei ihm stets die
Melodie das Bild, der Gedanke den Einfall beherrschte. Bei der scheinbaren
Willkür in seinen Gedankensprüngen weiß er doch überall, was er will; er
ist Herr über seine Geister. Daß sie das nicht sind, ist eben die Eigenthüm¬
lichkeit jener Dichter.,

Man verwechsle diese moderne Plastik der Poesie nicht etwa mit dem
alten beschreibenden Gedicht. Hier sah man sich wohlgefällig nach Farbe und
Gestalt in der Natur um, wählte sorgfältig das Passende und fügte so sei"
eigenes Ideal zusammen: dort sind es die Geister der Farben und Gestalten,
die mit magischer Macht ans die Seele des Dichters eindringen, wie Frei-
ligraths Blumengeister auf das schlafende Mädchen, beängstigend, peinlich-
und ihn zwingen, dem Eindruck Worte zu geben. Wenn man in bedeuten¬
der Höhe in einem Alpenkcssel eingeschlossen ist. kommt es einer nervös em¬
pfindlichen Natur zuweilen so vor, als ob die düstern Bergriesen immer nä¬
her rücken und auf den beängstigten Menschen losgehen: diese Macht übt
auf diese Dichter die gesammte Natur aus: givv me- a soul! oft sie ihnen


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[0454] büßen, so verlangen Annettens Gedichte die schärfste Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Wort, und auch dann ist man noch nicht sicher, sie ganz zu ver¬ stehen. Die einzelnen Anschauungen treten ihr so schnell und in so scharfem Licht, so blitzartig vor die Seele, daß sie nicht Muße hat, sie gehörig zu formen. Aber es sind wirkliche Gesichte, nicht etwa Reminiscenzen aus früherer Lectüre; es sind starke individuelle Empfindungen, und nicht etwa allgemeine Gefühls-Abstractionen. , Der Stifter dieser Schule des Liedes ist Victor Hugo: man nennt sie bei den Franzosen die romantische, unter welchem Ausdruck jenseits des Rheins aber ganz etwas anders, ja mitunter das Gegentheil verstanden wird als bei uns. Das Motiv der Schule war Auflehnung gegen die akademische Form und gegen die stofflose, uns einer Convenienz des Gefühls beruhende Em¬ pfindung: Sehnsucht nach handgreiflicher, eckiger Realität. Daher an Stelle der zierlichen Umschreibung das derbste, wo möglich anstößigste Wort; an Stelle des glatten musikalischen Verses ein zerhackter Strophenbau; an Stelle des all¬ gemeinen, nützlichen und dem Gemeinwohl zusagenden Gedankens die origi¬ nelle, oft ganz unvermittelte und ziellose Anschauung; an Stelle der Melodie das Bild. In der frühern Lyrik war das Bild, die Plastik nur Mittel, nicht Zweck, es sollte die Stimmung begründen oder den Gedanken erläutern; bei V. Hugo und seiner Schule ist Farbe und Umriß das erste und letzte. Fi" einen, der an die alte Weise gewöhnt ist, hat diese Bilderpracht zuweilen et¬ was Verblüffendes, wenn sie in dem Augenblick abbricht, wo man die Nutzanwendung erwartet. In Deutschland sind außer Annette Anastasius Grün, Lenau und Fm- ligrath die Vertreter dieser Richtung; Heine nicht, weil bei ihm stets die Melodie das Bild, der Gedanke den Einfall beherrschte. Bei der scheinbaren Willkür in seinen Gedankensprüngen weiß er doch überall, was er will; er ist Herr über seine Geister. Daß sie das nicht sind, ist eben die Eigenthüm¬ lichkeit jener Dichter., Man verwechsle diese moderne Plastik der Poesie nicht etwa mit dem alten beschreibenden Gedicht. Hier sah man sich wohlgefällig nach Farbe und Gestalt in der Natur um, wählte sorgfältig das Passende und fügte so sei" eigenes Ideal zusammen: dort sind es die Geister der Farben und Gestalten, die mit magischer Macht ans die Seele des Dichters eindringen, wie Frei- ligraths Blumengeister auf das schlafende Mädchen, beängstigend, peinlich- und ihn zwingen, dem Eindruck Worte zu geben. Wenn man in bedeuten¬ der Höhe in einem Alpenkcssel eingeschlossen ist. kommt es einer nervös em¬ pfindlichen Natur zuweilen so vor, als ob die düstern Bergriesen immer nä¬ her rücken und auf den beängstigten Menschen losgehen: diese Macht übt auf diese Dichter die gesammte Natur aus: givv me- a soul! oft sie ihnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/454>, abgerufen am 22.05.2024.