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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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schall Richelieu oder dem schönen Lötoriöre vorgeschlagen Hütte, sich in
ein Bureau einzuschließen, sie hatten den Rathgeber zum Fenster hinausgeworfen
und gesagt: wir wollen uns für den König schlagen, aber uns nicht für ihn
ennuyiren! Wenn ich arbeiten wollte, hätten sie gesagt, so würde ich meine
Schuldigkeit bei mir zu Hause thun; aber ich ziehe die Pariser Mädchen vor.
-- Niemals war man so wenig liebenswürdig, so wenig hübsch bei Hofe,
Männer und Frauen, als I7S6. Man sah sich zu häufig und zu früh am
Morgen. Die Frauen machten keine Toilette, die Männer gingen gestiefelt
und mit jenem schmuzigen Ansehen, das das feuchte Clima von Paris gibt.
Sie standen früh um sechs Uhr auf, um Memoiren gegen die Tauben und
Kaninchen zu schreiben. Lötoriöre legte sich um sechs Uhr Abends schlafen,
um Mitternachts, schön wie der Tag, aus einem Ball zu erscheinen. Wer
denkt jetzt noch daran, den Leuten gefallen zu wollen! Von Anmuth, distin-
guirten Gesichtern, eleganter Haltung ist keine Rede, es gilt für guten Ton,
so schlechten Ton als möglich zu haben. Die Maurergesellschaften, aus Leu¬
ten von Geist oder aus Militärs zusammengesetzt, haben den Ton verdorben.
Wie oft habe ich nicht diesen Leuten, wenn sie im Foyer der italienischen
Oper Gemeinplätze über die Staatsverfassungen vorbrachten, als ob sie Eng¬
länder wären, zugerufen: was gehen euch Pitt und Fox an, laßt doch das
den armseligen Zeitungsschreibern! aber diese Leute wußten nicht, wie sie sich
amusiren sollten, und darum fingen sie an tief zu werden, sie setzten sich hin,
schrieben über Moral und langweilten sich und Andere. Das war früher
ganz anders. Der schöne L6toriöre hat nie etwas anderes geschrieben, als
das Billet: "Ich liebe dich bis zur Raserei und werde zwischen 11 und 12 zu
deinen Füßen sein." Dieses Billet schrieb er freilich allnächtlich an ein
Dutzend Personen zu gleicher Zeit. Die übrige Zeit des Tages nahm das
Nachdenken darüber hin, ob man Orangenpuder oder Jasminpomade wäh¬
len sollte: solche Leute machen keine Revolution. -- Damals hatten die jun¬
gen Leute keine Zeit zu denken; selbst die Heirathen bei Hofe dienten dazu,
die Religion zu kräftigen; man machte wohl mitunter ein etwas frivoles
Gedicht, aber man ging in die Messe, und den Freigeist zu spielen, hätte
für den schlechtesten Ton der Welt gegolten. -- Fremde Abenteuerer, ein Apo¬
theker aus Spaa und zwei Sündenböcke aus Bravant, führten die National-
cocarde in Frankreich ein und zeigten dem Volk seine Stärke; sie zeigten ihm,
daß ein Korporal mit sechs Soldaten nicht Kraft genug hat, einen Volkshau¬
fen von 10,000 zu zerstreuen, wenn man ihn eben nicht respectirt. -- Man
sage doch nicht, die Philosophie habe diese Revolution gemacht! Ich habe
keinen Philosophen gesehen, Wohl aber große Herrn, die die Bürgerlichen,
und Bürgerliche, die die großen Herrn spielten. Freilich brauler Leute von
Geist mitunter ein gar zu kühnes System zusammen, aber es fiel ihnen kei-


schall Richelieu oder dem schönen Lötoriöre vorgeschlagen Hütte, sich in
ein Bureau einzuschließen, sie hatten den Rathgeber zum Fenster hinausgeworfen
und gesagt: wir wollen uns für den König schlagen, aber uns nicht für ihn
ennuyiren! Wenn ich arbeiten wollte, hätten sie gesagt, so würde ich meine
Schuldigkeit bei mir zu Hause thun; aber ich ziehe die Pariser Mädchen vor.
— Niemals war man so wenig liebenswürdig, so wenig hübsch bei Hofe,
Männer und Frauen, als I7S6. Man sah sich zu häufig und zu früh am
Morgen. Die Frauen machten keine Toilette, die Männer gingen gestiefelt
und mit jenem schmuzigen Ansehen, das das feuchte Clima von Paris gibt.
Sie standen früh um sechs Uhr auf, um Memoiren gegen die Tauben und
Kaninchen zu schreiben. Lötoriöre legte sich um sechs Uhr Abends schlafen,
um Mitternachts, schön wie der Tag, aus einem Ball zu erscheinen. Wer
denkt jetzt noch daran, den Leuten gefallen zu wollen! Von Anmuth, distin-
guirten Gesichtern, eleganter Haltung ist keine Rede, es gilt für guten Ton,
so schlechten Ton als möglich zu haben. Die Maurergesellschaften, aus Leu¬
ten von Geist oder aus Militärs zusammengesetzt, haben den Ton verdorben.
Wie oft habe ich nicht diesen Leuten, wenn sie im Foyer der italienischen
Oper Gemeinplätze über die Staatsverfassungen vorbrachten, als ob sie Eng¬
länder wären, zugerufen: was gehen euch Pitt und Fox an, laßt doch das
den armseligen Zeitungsschreibern! aber diese Leute wußten nicht, wie sie sich
amusiren sollten, und darum fingen sie an tief zu werden, sie setzten sich hin,
schrieben über Moral und langweilten sich und Andere. Das war früher
ganz anders. Der schöne L6toriöre hat nie etwas anderes geschrieben, als
das Billet: „Ich liebe dich bis zur Raserei und werde zwischen 11 und 12 zu
deinen Füßen sein." Dieses Billet schrieb er freilich allnächtlich an ein
Dutzend Personen zu gleicher Zeit. Die übrige Zeit des Tages nahm das
Nachdenken darüber hin, ob man Orangenpuder oder Jasminpomade wäh¬
len sollte: solche Leute machen keine Revolution. — Damals hatten die jun¬
gen Leute keine Zeit zu denken; selbst die Heirathen bei Hofe dienten dazu,
die Religion zu kräftigen; man machte wohl mitunter ein etwas frivoles
Gedicht, aber man ging in die Messe, und den Freigeist zu spielen, hätte
für den schlechtesten Ton der Welt gegolten. — Fremde Abenteuerer, ein Apo¬
theker aus Spaa und zwei Sündenböcke aus Bravant, führten die National-
cocarde in Frankreich ein und zeigten dem Volk seine Stärke; sie zeigten ihm,
daß ein Korporal mit sechs Soldaten nicht Kraft genug hat, einen Volkshau¬
fen von 10,000 zu zerstreuen, wenn man ihn eben nicht respectirt. — Man
sage doch nicht, die Philosophie habe diese Revolution gemacht! Ich habe
keinen Philosophen gesehen, Wohl aber große Herrn, die die Bürgerlichen,
und Bürgerliche, die die großen Herrn spielten. Freilich brauler Leute von
Geist mitunter ein gar zu kühnes System zusammen, aber es fiel ihnen kei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/198>, abgerufen am 14.05.2024.