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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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hinaufpilgerten. Sie verstattete dies nur einigen wenigen Auserwählten, die
alle mehr oder weniger auch Originale waren wie sie selbst. Es ließe sich
ein hübsches Stückchen deutschen Gemüthslebens hier abschildern, wenn man
nicht fürchten müßte, die guten Seelen zu sehr zu erschrecken, wollte man sie
aus ihrer bescheidenen Verborgenheit ziehen. Einige Namen dürfen jedoch ge¬
nannt werden, weil sie sich bereits selbst in das Buch der Oeffentlichkeit ge¬
schrieben haben. Es ist Levin Schücking und Wilhelm Junkman, die beiden
westfälischen Dichter; letzterer weniger bekannt, aber viel origineller als ersterer.
An beide finden sich die schönsten Gedichte in der Sammlung I. Die an
Schücking stehen Seite 165 und 168 ohne seinen Namen zu erwähnen und be¬
ziehen sich besonders auf eine Ähnlichkeit der Gesichtszüge, die Annette v. Droste
zwischen sich und dem viele Jahre jüngeren Freunde finden wollte. Es bestand diese
jedoch nur in der Einbildung und beiderseitigen Vorliebe für einander; denn An¬
nette war hochblond, hatte sehr vorstehende wasserblaue Augen, stark geröthete
Gesichtsfarbe, eine etwas schief gerichtete längliche Nase und einen kleinen hübschen
Mund mit guten Zähnen. Dabei war sie klein und sehr dick, während Schücking
mit dunkeln Augen und braunem Teint damals eine schmächtige Gestalt und
ein schmales Gesicht verband. Es ist indessen nicht zu leugnen, daß derselbe
einigen Einfluß auf die Production der Dichterin geübt hat, jedoch eigentlich
nur in secundärer Art. Er war ihr ein Sporn, sie wollte zeigen, daß sie es
ihm zuvorthun könne an moderner Ausdrucksweise und rascher Arbeit. So
entstand ein poetisches Wettlaufen zwischen beiden, aus welchem einige von
Aunettens schönsten Gedichten hervorgingen. Die meisten waren jedoch schon
fertig und vieles sogar schon gedruckt, als sie Schücking kennen lernte. An¬
nette hat indessen nicht etwa in der Jugend schon gedichtet, sie war minde¬
stens sechsunddreißig Jahre alt, als sie begann. Im einundvicrzigsten machte
sie Schückings Bekanntschaft, und fünf Jahr später war ungefähr der Gipfel¬
punkt ihrer literarischen Thätigkeit erreicht, nachdem sie wol schon zwei volle
Jahre von Schücking entfernt und auch entfremdet lebte. Bei ihm selbst ist
ehr Einfluß von ungleich, größerem Gewicht gewesen, man kann dreist be¬
haupten, daß Schücking ohne die Einwirkung der Droste weit entfernt sein
würde von seiner jetzigen Richtung und Geltung. Wilhelm Junkmann war
eine so ächt westfälische Spezialität, daß ein naher Umgang mit ihm die
vaterländischen Sympathien der Dichterin noch lebendiger zu machen wohl
geeignet war. Seine Gedichte sind formlos und mystisch wie der Nebel aus
seinen Lieblingsplätzen von Haide und Moor. Noch eigensinniger in seiner
Eigenthümlichkeit beharrend als Annette v. Droste selbst, konnte er keinen
direkten Einfluß auf sie gewinnen; aber seine ganze Erscheinung bestärkte sie
doch in ihrer Vorliebe sür das Seltsame, Träumerische und die Extasen religiö¬
ser Anschauung. Ihr Gedicht an ihn, Sammlung I, Seite 126, gibt ein


hinaufpilgerten. Sie verstattete dies nur einigen wenigen Auserwählten, die
alle mehr oder weniger auch Originale waren wie sie selbst. Es ließe sich
ein hübsches Stückchen deutschen Gemüthslebens hier abschildern, wenn man
nicht fürchten müßte, die guten Seelen zu sehr zu erschrecken, wollte man sie
aus ihrer bescheidenen Verborgenheit ziehen. Einige Namen dürfen jedoch ge¬
nannt werden, weil sie sich bereits selbst in das Buch der Oeffentlichkeit ge¬
schrieben haben. Es ist Levin Schücking und Wilhelm Junkman, die beiden
westfälischen Dichter; letzterer weniger bekannt, aber viel origineller als ersterer.
An beide finden sich die schönsten Gedichte in der Sammlung I. Die an
Schücking stehen Seite 165 und 168 ohne seinen Namen zu erwähnen und be¬
ziehen sich besonders auf eine Ähnlichkeit der Gesichtszüge, die Annette v. Droste
zwischen sich und dem viele Jahre jüngeren Freunde finden wollte. Es bestand diese
jedoch nur in der Einbildung und beiderseitigen Vorliebe für einander; denn An¬
nette war hochblond, hatte sehr vorstehende wasserblaue Augen, stark geröthete
Gesichtsfarbe, eine etwas schief gerichtete längliche Nase und einen kleinen hübschen
Mund mit guten Zähnen. Dabei war sie klein und sehr dick, während Schücking
mit dunkeln Augen und braunem Teint damals eine schmächtige Gestalt und
ein schmales Gesicht verband. Es ist indessen nicht zu leugnen, daß derselbe
einigen Einfluß auf die Production der Dichterin geübt hat, jedoch eigentlich
nur in secundärer Art. Er war ihr ein Sporn, sie wollte zeigen, daß sie es
ihm zuvorthun könne an moderner Ausdrucksweise und rascher Arbeit. So
entstand ein poetisches Wettlaufen zwischen beiden, aus welchem einige von
Aunettens schönsten Gedichten hervorgingen. Die meisten waren jedoch schon
fertig und vieles sogar schon gedruckt, als sie Schücking kennen lernte. An¬
nette hat indessen nicht etwa in der Jugend schon gedichtet, sie war minde¬
stens sechsunddreißig Jahre alt, als sie begann. Im einundvicrzigsten machte
sie Schückings Bekanntschaft, und fünf Jahr später war ungefähr der Gipfel¬
punkt ihrer literarischen Thätigkeit erreicht, nachdem sie wol schon zwei volle
Jahre von Schücking entfernt und auch entfremdet lebte. Bei ihm selbst ist
ehr Einfluß von ungleich, größerem Gewicht gewesen, man kann dreist be¬
haupten, daß Schücking ohne die Einwirkung der Droste weit entfernt sein
würde von seiner jetzigen Richtung und Geltung. Wilhelm Junkmann war
eine so ächt westfälische Spezialität, daß ein naher Umgang mit ihm die
vaterländischen Sympathien der Dichterin noch lebendiger zu machen wohl
geeignet war. Seine Gedichte sind formlos und mystisch wie der Nebel aus
seinen Lieblingsplätzen von Haide und Moor. Noch eigensinniger in seiner
Eigenthümlichkeit beharrend als Annette v. Droste selbst, konnte er keinen
direkten Einfluß auf sie gewinnen; aber seine ganze Erscheinung bestärkte sie
doch in ihrer Vorliebe sür das Seltsame, Träumerische und die Extasen religiö¬
ser Anschauung. Ihr Gedicht an ihn, Sammlung I, Seite 126, gibt ein


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[0206] hinaufpilgerten. Sie verstattete dies nur einigen wenigen Auserwählten, die alle mehr oder weniger auch Originale waren wie sie selbst. Es ließe sich ein hübsches Stückchen deutschen Gemüthslebens hier abschildern, wenn man nicht fürchten müßte, die guten Seelen zu sehr zu erschrecken, wollte man sie aus ihrer bescheidenen Verborgenheit ziehen. Einige Namen dürfen jedoch ge¬ nannt werden, weil sie sich bereits selbst in das Buch der Oeffentlichkeit ge¬ schrieben haben. Es ist Levin Schücking und Wilhelm Junkman, die beiden westfälischen Dichter; letzterer weniger bekannt, aber viel origineller als ersterer. An beide finden sich die schönsten Gedichte in der Sammlung I. Die an Schücking stehen Seite 165 und 168 ohne seinen Namen zu erwähnen und be¬ ziehen sich besonders auf eine Ähnlichkeit der Gesichtszüge, die Annette v. Droste zwischen sich und dem viele Jahre jüngeren Freunde finden wollte. Es bestand diese jedoch nur in der Einbildung und beiderseitigen Vorliebe für einander; denn An¬ nette war hochblond, hatte sehr vorstehende wasserblaue Augen, stark geröthete Gesichtsfarbe, eine etwas schief gerichtete längliche Nase und einen kleinen hübschen Mund mit guten Zähnen. Dabei war sie klein und sehr dick, während Schücking mit dunkeln Augen und braunem Teint damals eine schmächtige Gestalt und ein schmales Gesicht verband. Es ist indessen nicht zu leugnen, daß derselbe einigen Einfluß auf die Production der Dichterin geübt hat, jedoch eigentlich nur in secundärer Art. Er war ihr ein Sporn, sie wollte zeigen, daß sie es ihm zuvorthun könne an moderner Ausdrucksweise und rascher Arbeit. So entstand ein poetisches Wettlaufen zwischen beiden, aus welchem einige von Aunettens schönsten Gedichten hervorgingen. Die meisten waren jedoch schon fertig und vieles sogar schon gedruckt, als sie Schücking kennen lernte. An¬ nette hat indessen nicht etwa in der Jugend schon gedichtet, sie war minde¬ stens sechsunddreißig Jahre alt, als sie begann. Im einundvicrzigsten machte sie Schückings Bekanntschaft, und fünf Jahr später war ungefähr der Gipfel¬ punkt ihrer literarischen Thätigkeit erreicht, nachdem sie wol schon zwei volle Jahre von Schücking entfernt und auch entfremdet lebte. Bei ihm selbst ist ehr Einfluß von ungleich, größerem Gewicht gewesen, man kann dreist be¬ haupten, daß Schücking ohne die Einwirkung der Droste weit entfernt sein würde von seiner jetzigen Richtung und Geltung. Wilhelm Junkmann war eine so ächt westfälische Spezialität, daß ein naher Umgang mit ihm die vaterländischen Sympathien der Dichterin noch lebendiger zu machen wohl geeignet war. Seine Gedichte sind formlos und mystisch wie der Nebel aus seinen Lieblingsplätzen von Haide und Moor. Noch eigensinniger in seiner Eigenthümlichkeit beharrend als Annette v. Droste selbst, konnte er keinen direkten Einfluß auf sie gewinnen; aber seine ganze Erscheinung bestärkte sie doch in ihrer Vorliebe sür das Seltsame, Träumerische und die Extasen religiö¬ ser Anschauung. Ihr Gedicht an ihn, Sammlung I, Seite 126, gibt ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/206>, abgerufen am 15.05.2024.