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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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zu erscheinen, und eigentlich doch vollkommen kalt blieb. Für einen Spie߬
bürger, der keine Ohren, keine Augen, kein Gefühl hat, ist ein solches Urtheil
auch ganz in der Ordnung; daß mau es aber so häufig wiederholt, ist wirk¬
lich stark. Die Schröder selbst wußte recht gut, wie es damit stand: sie
wußte, daß sie in jeder ihrer Rollen, ja. in jedem ihrer Lieder ein Stück ih¬
rer Seele, ein Stück ihres Lebens gab. Freilich hat der wahre Künstler die
dem Laien ganz unverständliche Gabe, in dem Augenblick, wo er von seinem
Gegenstand ganz erfüllt ist, wo er ganz unihn glaubt, doch zugleich mit dem
Verstände darüber zu schweben, ihn zu übersehen und zu beherrschen. Diese
Gabe muß der Dichter ebenso besitzen wie der Schauspieler; die Romantiker
bezeichneten sie mit dem ungeschickten Ausdruck Ironie. Wer aber glaubt,
daß das eine das andere aufheben, daß die Natur die Kunst ersetzen könne,
der gehört noch in die Periode, wo mau die Kunst, Gedichte zu machen, lernte,
etwa in der Weise, wie die Kunst Stiefel zu verfertigen.

Von ihrer Vielseitigkeit erhalt man einen Begriff, wenn man etwa zwei
Rollen wie Fidelio und Emmeline in der Schweizerfamilie neben einander
stellt. Man kann sich keinen größern Gegensatz denken; aber in jeder
von ihnen war sie ganz was sie darstellte. Die zartesten Empfindungen
Stunden ihr ebenso zu Gebot wie die wildeste Leidenschaft: das ist z. B. ein
grenzenloser Vorzug vor der Rachel. Auch in Rollen, wo die Musik hinter
der eigentlichen Schauspielkunst zurücktrat, konnte sie groß sein: so gehörte die
Rolle im Blaubart zu ihren erschütterndsten Leiswngcn, woran Gretry gewiß
unschuldig war. Auch Opeln, die ihren Neigungen ferne lagen, z. B. die
Meyerbeerschen, brachte sie zur Geltung: aber ihre volle Kraft wandte sie aus die
echten Meisterwerke, und ihr Urtheil war eben so rein und sicher als ihr Talent.

Ihr Leben war kein glückliches. Wer große Leidenschaften darstellen will,
muß etwas davou in seiner Seele haben, und ein geborenes Theaterkind
wird nicht leicht vom Schicksal getragen. In ihrer Jugend hatte sie viel
Trauriges erlebt, in den letzten Jahren mußte sie das größte Glück ihres
Lebeus entbehren, den Vollgenuß ihrer Kunst, das berauschende' Gefühl, die
Menge durch wirkliche Kraft mit sich fortzureißen: ein Gefühl, das für den,
der es kennt, durch nichts zu ersetzen ist. Unter diesen Umständen wagt man
es kaum, ihren Tod zu beklagen: wenn das Bewußtsein, Großes und Herr¬
liches geleistet zu habe", für das stillere Glück des Lebens entschädigen kann,
so kam ihr das Recht dieses Bewußtseins im höchsten Grade zu; der Nach¬
I. S. ruhm will für den darstellenden Künstler nur wenig sagen.




Herausgegeben von Gustav Freytag und Julian Schmidt.
Verantwortlicher Redacteur l Moritz Busch -- Verlag von F. L, Hering
in Leipzig.
Druck von C. E. Elbert in Leipzig.

zu erscheinen, und eigentlich doch vollkommen kalt blieb. Für einen Spie߬
bürger, der keine Ohren, keine Augen, kein Gefühl hat, ist ein solches Urtheil
auch ganz in der Ordnung; daß mau es aber so häufig wiederholt, ist wirk¬
lich stark. Die Schröder selbst wußte recht gut, wie es damit stand: sie
wußte, daß sie in jeder ihrer Rollen, ja. in jedem ihrer Lieder ein Stück ih¬
rer Seele, ein Stück ihres Lebens gab. Freilich hat der wahre Künstler die
dem Laien ganz unverständliche Gabe, in dem Augenblick, wo er von seinem
Gegenstand ganz erfüllt ist, wo er ganz unihn glaubt, doch zugleich mit dem
Verstände darüber zu schweben, ihn zu übersehen und zu beherrschen. Diese
Gabe muß der Dichter ebenso besitzen wie der Schauspieler; die Romantiker
bezeichneten sie mit dem ungeschickten Ausdruck Ironie. Wer aber glaubt,
daß das eine das andere aufheben, daß die Natur die Kunst ersetzen könne,
der gehört noch in die Periode, wo mau die Kunst, Gedichte zu machen, lernte,
etwa in der Weise, wie die Kunst Stiefel zu verfertigen.

Von ihrer Vielseitigkeit erhalt man einen Begriff, wenn man etwa zwei
Rollen wie Fidelio und Emmeline in der Schweizerfamilie neben einander
stellt. Man kann sich keinen größern Gegensatz denken; aber in jeder
von ihnen war sie ganz was sie darstellte. Die zartesten Empfindungen
Stunden ihr ebenso zu Gebot wie die wildeste Leidenschaft: das ist z. B. ein
grenzenloser Vorzug vor der Rachel. Auch in Rollen, wo die Musik hinter
der eigentlichen Schauspielkunst zurücktrat, konnte sie groß sein: so gehörte die
Rolle im Blaubart zu ihren erschütterndsten Leiswngcn, woran Gretry gewiß
unschuldig war. Auch Opeln, die ihren Neigungen ferne lagen, z. B. die
Meyerbeerschen, brachte sie zur Geltung: aber ihre volle Kraft wandte sie aus die
echten Meisterwerke, und ihr Urtheil war eben so rein und sicher als ihr Talent.

Ihr Leben war kein glückliches. Wer große Leidenschaften darstellen will,
muß etwas davou in seiner Seele haben, und ein geborenes Theaterkind
wird nicht leicht vom Schicksal getragen. In ihrer Jugend hatte sie viel
Trauriges erlebt, in den letzten Jahren mußte sie das größte Glück ihres
Lebeus entbehren, den Vollgenuß ihrer Kunst, das berauschende' Gefühl, die
Menge durch wirkliche Kraft mit sich fortzureißen: ein Gefühl, das für den,
der es kennt, durch nichts zu ersetzen ist. Unter diesen Umständen wagt man
es kaum, ihren Tod zu beklagen: wenn das Bewußtsein, Großes und Herr¬
liches geleistet zu habe«, für das stillere Glück des Lebens entschädigen kann,
so kam ihr das Recht dieses Bewußtseins im höchsten Grade zu; der Nach¬
I. S. ruhm will für den darstellenden Künstler nur wenig sagen.




Herausgegeben von Gustav Freytag und Julian Schmidt.
Verantwortlicher Redacteur l Moritz Busch — Verlag von F. L, Hering
in Leipzig.
Druck von C. E. Elbert in Leipzig.
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[0252] zu erscheinen, und eigentlich doch vollkommen kalt blieb. Für einen Spie߬ bürger, der keine Ohren, keine Augen, kein Gefühl hat, ist ein solches Urtheil auch ganz in der Ordnung; daß mau es aber so häufig wiederholt, ist wirk¬ lich stark. Die Schröder selbst wußte recht gut, wie es damit stand: sie wußte, daß sie in jeder ihrer Rollen, ja. in jedem ihrer Lieder ein Stück ih¬ rer Seele, ein Stück ihres Lebens gab. Freilich hat der wahre Künstler die dem Laien ganz unverständliche Gabe, in dem Augenblick, wo er von seinem Gegenstand ganz erfüllt ist, wo er ganz unihn glaubt, doch zugleich mit dem Verstände darüber zu schweben, ihn zu übersehen und zu beherrschen. Diese Gabe muß der Dichter ebenso besitzen wie der Schauspieler; die Romantiker bezeichneten sie mit dem ungeschickten Ausdruck Ironie. Wer aber glaubt, daß das eine das andere aufheben, daß die Natur die Kunst ersetzen könne, der gehört noch in die Periode, wo mau die Kunst, Gedichte zu machen, lernte, etwa in der Weise, wie die Kunst Stiefel zu verfertigen. Von ihrer Vielseitigkeit erhalt man einen Begriff, wenn man etwa zwei Rollen wie Fidelio und Emmeline in der Schweizerfamilie neben einander stellt. Man kann sich keinen größern Gegensatz denken; aber in jeder von ihnen war sie ganz was sie darstellte. Die zartesten Empfindungen Stunden ihr ebenso zu Gebot wie die wildeste Leidenschaft: das ist z. B. ein grenzenloser Vorzug vor der Rachel. Auch in Rollen, wo die Musik hinter der eigentlichen Schauspielkunst zurücktrat, konnte sie groß sein: so gehörte die Rolle im Blaubart zu ihren erschütterndsten Leiswngcn, woran Gretry gewiß unschuldig war. Auch Opeln, die ihren Neigungen ferne lagen, z. B. die Meyerbeerschen, brachte sie zur Geltung: aber ihre volle Kraft wandte sie aus die echten Meisterwerke, und ihr Urtheil war eben so rein und sicher als ihr Talent. Ihr Leben war kein glückliches. Wer große Leidenschaften darstellen will, muß etwas davou in seiner Seele haben, und ein geborenes Theaterkind wird nicht leicht vom Schicksal getragen. In ihrer Jugend hatte sie viel Trauriges erlebt, in den letzten Jahren mußte sie das größte Glück ihres Lebeus entbehren, den Vollgenuß ihrer Kunst, das berauschende' Gefühl, die Menge durch wirkliche Kraft mit sich fortzureißen: ein Gefühl, das für den, der es kennt, durch nichts zu ersetzen ist. Unter diesen Umständen wagt man es kaum, ihren Tod zu beklagen: wenn das Bewußtsein, Großes und Herr¬ liches geleistet zu habe«, für das stillere Glück des Lebens entschädigen kann, so kam ihr das Recht dieses Bewußtseins im höchsten Grade zu; der Nach¬ I. S. ruhm will für den darstellenden Künstler nur wenig sagen. Herausgegeben von Gustav Freytag und Julian Schmidt. Verantwortlicher Redacteur l Moritz Busch — Verlag von F. L, Hering in Leipzig. Druck von C. E. Elbert in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/252>, abgerufen am 15.05.2024.