Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hätte. Man nahm 1809 dem Papst sein weltliches Reich, und Rom, soweit
es nicht Priesterglatze und Mönchskutte trägt, nennt das halbe Jcchrzent von
da bis zur Restauration seine glücklichste Zeit in diesem Jahrhundert/) Die
Weltordnung wurde weder dort noch hier erschüttert: die geistlichen Herren
traten ab und gingen hin, wohin sie gehörten, vom Thron auf den Bischofs¬
stuhl, ohne daß von besagter Weltordnung auch nur ein Stein nachgebröckclt
wäre.

Anders scheint sichs mit denen zu verhalten, welche, die Mittelstrahe
zwischen den Extremen einschlagend, von den wiederholt dem Papst angern-
thenen Reformen Abhilfe der Beschwerden erwarten. Auch uns ist die Mittel¬
straße in vielen Fragen eine goldene, auch wir glauben, daß die meisten
Wirren unsrer Zeit nur allmälig. durch aufeinander folgende Compromisse
einem glücklichen Ausgang zugeführt werden können. In dieser Frage be¬
dauern wir, diesen Weg nicht für den richtigen erkennen zu können. Die rechte
Zeit zu einem Kompromiß scheint uns vorüber, die Mittelstraße würde, wie
uns dünkt, in eine Sackgasse führen. Der Papst kann die Reform, die allein
Abhilfe gewähren würde, nicht bewilligen; er wird sie, gezwungen sie auszu-
sprechen, nur mit dem Vorbehalt verkündigen, daß sie unausgeführt bleibe.
Die Italiener aber wissen jetzt zur Genüge, daß eine theilweise Besserung ihrer
Zustände oder eine solche, die widerwillig vorgenommen wird, bei der ersten
Gelegenheit in ihr Gegentheil umschlägt. Sie würden sich eben auch nur
gezwungen einem solchen Abkommen fügen, und sie rücken, wie es scheint, jetzt
dem Standpunkt näher, wo sie sich nicht mehr zwingen zu lassen brauchen.

Es gab eine Zeit, wo man naiver dachte. "Da stürzt ein System ein,"
sagte Rom, als bei der feierlichen Ausstellung Gregors des Sechzehnten der
über dem Todten errichtete Thronhimmel zusammen fiel. "Das System ist
eingestürzt, das Papstthum aber gerettet! Es lebe der Papst!" erscholl es ju¬
belnd durch ganz Italien, als Gregors Nachfolger, Pius der Neunte, Ma߬
regeln treffen zu wollen schien, die den Wünschen des Volkes entsprachen. Man
bedachte, obwol man die letzten zwanzig Jahre, freilich auf ziemlich wüste
Weise, viel Politik getrieben, nicht, daß dies unmöglich, daß die weltliche Seite
des Papstthums in allen wesentlichen Stücken unverbesserlich sei, daß eine
Theokratie keine constitutionellen Einrichtungen ertrage, daß der Papst als



') Reaktionäre Organe beklagen sich darüber, daß man auf der entgegengesetzten Seite
die Zustände des Kirchenstaates mit der Brille anonymer Touristen sehe. Niebuhr, bekanntlich
kein Tourist und ein geborner Conservativer, schreibt im Jahre 1818 als Augenzeuge: "Die
Jeremiaden über das Elend Roms unter Bonaparte sind dummes Gewäsch unwissender Künst¬
ler. Das Pfaffenwesen mit der Wurzel auszureißen war eine nothwendige
Amputation... Das Volk war damit beschäftigt und versorgt... und Alles wäre auf na¬
türliche Bahn gekommen." Es versteht sich von selbst, daß wir mit diesem Citat nicht Napo¬
leons Eroberung Italiens vertheidigen.

hätte. Man nahm 1809 dem Papst sein weltliches Reich, und Rom, soweit
es nicht Priesterglatze und Mönchskutte trägt, nennt das halbe Jcchrzent von
da bis zur Restauration seine glücklichste Zeit in diesem Jahrhundert/) Die
Weltordnung wurde weder dort noch hier erschüttert: die geistlichen Herren
traten ab und gingen hin, wohin sie gehörten, vom Thron auf den Bischofs¬
stuhl, ohne daß von besagter Weltordnung auch nur ein Stein nachgebröckclt
wäre.

Anders scheint sichs mit denen zu verhalten, welche, die Mittelstrahe
zwischen den Extremen einschlagend, von den wiederholt dem Papst angern-
thenen Reformen Abhilfe der Beschwerden erwarten. Auch uns ist die Mittel¬
straße in vielen Fragen eine goldene, auch wir glauben, daß die meisten
Wirren unsrer Zeit nur allmälig. durch aufeinander folgende Compromisse
einem glücklichen Ausgang zugeführt werden können. In dieser Frage be¬
dauern wir, diesen Weg nicht für den richtigen erkennen zu können. Die rechte
Zeit zu einem Kompromiß scheint uns vorüber, die Mittelstraße würde, wie
uns dünkt, in eine Sackgasse führen. Der Papst kann die Reform, die allein
Abhilfe gewähren würde, nicht bewilligen; er wird sie, gezwungen sie auszu-
sprechen, nur mit dem Vorbehalt verkündigen, daß sie unausgeführt bleibe.
Die Italiener aber wissen jetzt zur Genüge, daß eine theilweise Besserung ihrer
Zustände oder eine solche, die widerwillig vorgenommen wird, bei der ersten
Gelegenheit in ihr Gegentheil umschlägt. Sie würden sich eben auch nur
gezwungen einem solchen Abkommen fügen, und sie rücken, wie es scheint, jetzt
dem Standpunkt näher, wo sie sich nicht mehr zwingen zu lassen brauchen.

Es gab eine Zeit, wo man naiver dachte. „Da stürzt ein System ein,"
sagte Rom, als bei der feierlichen Ausstellung Gregors des Sechzehnten der
über dem Todten errichtete Thronhimmel zusammen fiel. „Das System ist
eingestürzt, das Papstthum aber gerettet! Es lebe der Papst!" erscholl es ju¬
belnd durch ganz Italien, als Gregors Nachfolger, Pius der Neunte, Ma߬
regeln treffen zu wollen schien, die den Wünschen des Volkes entsprachen. Man
bedachte, obwol man die letzten zwanzig Jahre, freilich auf ziemlich wüste
Weise, viel Politik getrieben, nicht, daß dies unmöglich, daß die weltliche Seite
des Papstthums in allen wesentlichen Stücken unverbesserlich sei, daß eine
Theokratie keine constitutionellen Einrichtungen ertrage, daß der Papst als



') Reaktionäre Organe beklagen sich darüber, daß man auf der entgegengesetzten Seite
die Zustände des Kirchenstaates mit der Brille anonymer Touristen sehe. Niebuhr, bekanntlich
kein Tourist und ein geborner Conservativer, schreibt im Jahre 1818 als Augenzeuge: „Die
Jeremiaden über das Elend Roms unter Bonaparte sind dummes Gewäsch unwissender Künst¬
ler. Das Pfaffenwesen mit der Wurzel auszureißen war eine nothwendige
Amputation... Das Volk war damit beschäftigt und versorgt... und Alles wäre auf na¬
türliche Bahn gekommen." Es versteht sich von selbst, daß wir mit diesem Citat nicht Napo¬
leons Eroberung Italiens vertheidigen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0294" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/109016"/>
          <p xml:id="ID_831" prev="#ID_830"> hätte. Man nahm 1809 dem Papst sein weltliches Reich, und Rom, soweit<lb/>
es nicht Priesterglatze und Mönchskutte trägt, nennt das halbe Jcchrzent von<lb/>
da bis zur Restauration seine glücklichste Zeit in diesem Jahrhundert/) Die<lb/>
Weltordnung wurde weder dort noch hier erschüttert: die geistlichen Herren<lb/>
traten ab und gingen hin, wohin sie gehörten, vom Thron auf den Bischofs¬<lb/>
stuhl, ohne daß von besagter Weltordnung auch nur ein Stein nachgebröckclt<lb/>
wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_832"> Anders scheint sichs mit denen zu verhalten, welche, die Mittelstrahe<lb/>
zwischen den Extremen einschlagend, von den wiederholt dem Papst angern-<lb/>
thenen Reformen Abhilfe der Beschwerden erwarten. Auch uns ist die Mittel¬<lb/>
straße in vielen Fragen eine goldene, auch wir glauben, daß die meisten<lb/>
Wirren unsrer Zeit nur allmälig. durch aufeinander folgende Compromisse<lb/>
einem glücklichen Ausgang zugeführt werden können. In dieser Frage be¬<lb/>
dauern wir, diesen Weg nicht für den richtigen erkennen zu können. Die rechte<lb/>
Zeit zu einem Kompromiß scheint uns vorüber, die Mittelstraße würde, wie<lb/>
uns dünkt, in eine Sackgasse führen. Der Papst kann die Reform, die allein<lb/>
Abhilfe gewähren würde, nicht bewilligen; er wird sie, gezwungen sie auszu-<lb/>
sprechen, nur mit dem Vorbehalt verkündigen, daß sie unausgeführt bleibe.<lb/>
Die Italiener aber wissen jetzt zur Genüge, daß eine theilweise Besserung ihrer<lb/>
Zustände oder eine solche, die widerwillig vorgenommen wird, bei der ersten<lb/>
Gelegenheit in ihr Gegentheil umschlägt. Sie würden sich eben auch nur<lb/>
gezwungen einem solchen Abkommen fügen, und sie rücken, wie es scheint, jetzt<lb/>
dem Standpunkt näher, wo sie sich nicht mehr zwingen zu lassen brauchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_833" next="#ID_834"> Es gab eine Zeit, wo man naiver dachte. &#x201E;Da stürzt ein System ein,"<lb/>
sagte Rom, als bei der feierlichen Ausstellung Gregors des Sechzehnten der<lb/>
über dem Todten errichtete Thronhimmel zusammen fiel. &#x201E;Das System ist<lb/>
eingestürzt, das Papstthum aber gerettet! Es lebe der Papst!" erscholl es ju¬<lb/>
belnd durch ganz Italien, als Gregors Nachfolger, Pius der Neunte, Ma߬<lb/>
regeln treffen zu wollen schien, die den Wünschen des Volkes entsprachen. Man<lb/>
bedachte, obwol man die letzten zwanzig Jahre, freilich auf ziemlich wüste<lb/>
Weise, viel Politik getrieben, nicht, daß dies unmöglich, daß die weltliche Seite<lb/>
des Papstthums in allen wesentlichen Stücken unverbesserlich sei, daß eine<lb/>
Theokratie keine constitutionellen Einrichtungen ertrage, daß der Papst als</p><lb/>
          <note xml:id="FID_21" place="foot"> ') Reaktionäre Organe beklagen sich darüber, daß man auf der entgegengesetzten Seite<lb/>
die Zustände des Kirchenstaates mit der Brille anonymer Touristen sehe. Niebuhr, bekanntlich<lb/>
kein Tourist und ein geborner Conservativer, schreibt im Jahre 1818 als Augenzeuge: &#x201E;Die<lb/>
Jeremiaden über das Elend Roms unter Bonaparte sind dummes Gewäsch unwissender Künst¬<lb/>
ler. Das Pfaffenwesen mit der Wurzel auszureißen war eine nothwendige<lb/>
Amputation... Das Volk war damit beschäftigt und versorgt... und Alles wäre auf na¬<lb/>
türliche Bahn gekommen." Es versteht sich von selbst, daß wir mit diesem Citat nicht Napo¬<lb/>
leons Eroberung Italiens vertheidigen.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0294] hätte. Man nahm 1809 dem Papst sein weltliches Reich, und Rom, soweit es nicht Priesterglatze und Mönchskutte trägt, nennt das halbe Jcchrzent von da bis zur Restauration seine glücklichste Zeit in diesem Jahrhundert/) Die Weltordnung wurde weder dort noch hier erschüttert: die geistlichen Herren traten ab und gingen hin, wohin sie gehörten, vom Thron auf den Bischofs¬ stuhl, ohne daß von besagter Weltordnung auch nur ein Stein nachgebröckclt wäre. Anders scheint sichs mit denen zu verhalten, welche, die Mittelstrahe zwischen den Extremen einschlagend, von den wiederholt dem Papst angern- thenen Reformen Abhilfe der Beschwerden erwarten. Auch uns ist die Mittel¬ straße in vielen Fragen eine goldene, auch wir glauben, daß die meisten Wirren unsrer Zeit nur allmälig. durch aufeinander folgende Compromisse einem glücklichen Ausgang zugeführt werden können. In dieser Frage be¬ dauern wir, diesen Weg nicht für den richtigen erkennen zu können. Die rechte Zeit zu einem Kompromiß scheint uns vorüber, die Mittelstraße würde, wie uns dünkt, in eine Sackgasse führen. Der Papst kann die Reform, die allein Abhilfe gewähren würde, nicht bewilligen; er wird sie, gezwungen sie auszu- sprechen, nur mit dem Vorbehalt verkündigen, daß sie unausgeführt bleibe. Die Italiener aber wissen jetzt zur Genüge, daß eine theilweise Besserung ihrer Zustände oder eine solche, die widerwillig vorgenommen wird, bei der ersten Gelegenheit in ihr Gegentheil umschlägt. Sie würden sich eben auch nur gezwungen einem solchen Abkommen fügen, und sie rücken, wie es scheint, jetzt dem Standpunkt näher, wo sie sich nicht mehr zwingen zu lassen brauchen. Es gab eine Zeit, wo man naiver dachte. „Da stürzt ein System ein," sagte Rom, als bei der feierlichen Ausstellung Gregors des Sechzehnten der über dem Todten errichtete Thronhimmel zusammen fiel. „Das System ist eingestürzt, das Papstthum aber gerettet! Es lebe der Papst!" erscholl es ju¬ belnd durch ganz Italien, als Gregors Nachfolger, Pius der Neunte, Ma߬ regeln treffen zu wollen schien, die den Wünschen des Volkes entsprachen. Man bedachte, obwol man die letzten zwanzig Jahre, freilich auf ziemlich wüste Weise, viel Politik getrieben, nicht, daß dies unmöglich, daß die weltliche Seite des Papstthums in allen wesentlichen Stücken unverbesserlich sei, daß eine Theokratie keine constitutionellen Einrichtungen ertrage, daß der Papst als ') Reaktionäre Organe beklagen sich darüber, daß man auf der entgegengesetzten Seite die Zustände des Kirchenstaates mit der Brille anonymer Touristen sehe. Niebuhr, bekanntlich kein Tourist und ein geborner Conservativer, schreibt im Jahre 1818 als Augenzeuge: „Die Jeremiaden über das Elend Roms unter Bonaparte sind dummes Gewäsch unwissender Künst¬ ler. Das Pfaffenwesen mit der Wurzel auszureißen war eine nothwendige Amputation... Das Volk war damit beschäftigt und versorgt... und Alles wäre auf na¬ türliche Bahn gekommen." Es versteht sich von selbst, daß wir mit diesem Citat nicht Napo¬ leons Eroberung Italiens vertheidigen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/294
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/294>, abgerufen am 15.05.2024.