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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Prophet! Spinoza oder Macchiavell! -- Darf aber auch zu jedem sagen:
lieber Freund! geht dirs doch wie mir; im einzelnen sentirst du kräftig und
herrlich, das Ganze ging in euern Kopf so wenig als in meinen." -- Wie
verwandt und doch wie auseinandergehend sind diese Wege! Beiden kommt
es auf Stärke. Wahrheit und Tiefe des Gefühls an; aber der Dichter ist un¬
mittelbar darüber im Reinen, welche Empfindung seines Innern göttlich sei,
welche Wunder thut; der Theolog sucht ängstlich nach einer äußern Au¬
torität.

"Was ich mache? schreibt Lavater 19. März 1781 an Jacobi. Ich den
unbeschreiblich beschäftigt, troile als Prediger meinen Gang ziemlich mecha¬
nisch und geistlos fort -- als Mensch genieß' ich tausend genossene und un-
genossene Freuden... als Christ sehn' ich mich immer, erwarte und ahnde
Handauflegung eines Mannes, dem ich den Schuhriemen zu lösen nicht werth
bin. den ich noch nicht kenne, den nur Gott kennt. Ich ruf' ihn nicht her¬
bei, geh' ihm nicht entgegen, aber er wird mir erscheinen, und bis er kommt,
bin ich nichts als ein armer Tagelöhner. Aber was in mir ist. ist größer
als was in der Welt ist; wenn das kein Se?o,- ist, so gibts überall nichts Gött¬
liches, das heißt nichts Ewiges, oder, welches eins ist. nichts wahrhaft Existi-
rendes . . . O könnt' ich ein einziges Wort sagen, das ewig und unwandelbar
ist! Ein solches Wort ist Pfand der Unsterblichkeit, und welchem Sterblichen
wäre nie ein solch Wort auf die Zunge gekommen!" -- Er war aber ein
unfertiger Dichter, und da ihm seine Vision keine Freiheit, keinen Frieden
gab. glaubte er auch nur halb daran. Die Schwäche seines wunderthätigen
Glaubens war eine Schwäche der schöpferischen Kraft. Dieses Mangels war
er sich mit vollkommener Klarheit bewußt. -- "Bis wir da sind, schreibt er
30. Juni 1785 an Jacobi. zu wissen, daß jedes lebende Wesen durch das,
was ihm am ähnlichsten und unähnlichsten ist, sich am besten erkennen kann
(Gott sich am gekreuzigten Christus, der Allmächtige in dem machtlosen, von
Ihm verlassenen Sohne), sollten wir von keinem et^x" der Philosophie
sprechen____Daß ein Wesen von der Art wie Christus, heiß es nun wie es
wolle, der Menschheit so unentbehrlich ist als der Compaß dem Seefahrer,
davon bin ich so gewiß, wie ich von dem Vorhandensein irgend eines physischen
Bedürfnisses und von der Schicklichkeit irgend eines sich darauf beziehenden
Objekts gewiß sein kann. Daß es ewiges Leben sein muß, Gott durch ein
solch Medium zu erkennen, daran kann ich nicht zweifeln. Die Schwierigkeit
liegt nicht in dem Mittel, sondern in dem Mittel zum Mittel. Dies hab ich
noch nicht gefunden -- heilig und selig, der es findet und mir erlaubt, mich
unter seine Ferse zu setzen, wenn er mich lehren will, wie ich es suchen soll."
-- "Es müssen Christen in der Welt sein, so gewiß ein Christus im Him¬
mel ist. apostolische Christen. Initiirte durch Handauflegung. . . Uns fehlt die


3"

Prophet! Spinoza oder Macchiavell! — Darf aber auch zu jedem sagen:
lieber Freund! geht dirs doch wie mir; im einzelnen sentirst du kräftig und
herrlich, das Ganze ging in euern Kopf so wenig als in meinen." — Wie
verwandt und doch wie auseinandergehend sind diese Wege! Beiden kommt
es auf Stärke. Wahrheit und Tiefe des Gefühls an; aber der Dichter ist un¬
mittelbar darüber im Reinen, welche Empfindung seines Innern göttlich sei,
welche Wunder thut; der Theolog sucht ängstlich nach einer äußern Au¬
torität.

„Was ich mache? schreibt Lavater 19. März 1781 an Jacobi. Ich den
unbeschreiblich beschäftigt, troile als Prediger meinen Gang ziemlich mecha¬
nisch und geistlos fort — als Mensch genieß' ich tausend genossene und un-
genossene Freuden... als Christ sehn' ich mich immer, erwarte und ahnde
Handauflegung eines Mannes, dem ich den Schuhriemen zu lösen nicht werth
bin. den ich noch nicht kenne, den nur Gott kennt. Ich ruf' ihn nicht her¬
bei, geh' ihm nicht entgegen, aber er wird mir erscheinen, und bis er kommt,
bin ich nichts als ein armer Tagelöhner. Aber was in mir ist. ist größer
als was in der Welt ist; wenn das kein Se?o,- ist, so gibts überall nichts Gött¬
liches, das heißt nichts Ewiges, oder, welches eins ist. nichts wahrhaft Existi-
rendes . . . O könnt' ich ein einziges Wort sagen, das ewig und unwandelbar
ist! Ein solches Wort ist Pfand der Unsterblichkeit, und welchem Sterblichen
wäre nie ein solch Wort auf die Zunge gekommen!" — Er war aber ein
unfertiger Dichter, und da ihm seine Vision keine Freiheit, keinen Frieden
gab. glaubte er auch nur halb daran. Die Schwäche seines wunderthätigen
Glaubens war eine Schwäche der schöpferischen Kraft. Dieses Mangels war
er sich mit vollkommener Klarheit bewußt. — „Bis wir da sind, schreibt er
30. Juni 1785 an Jacobi. zu wissen, daß jedes lebende Wesen durch das,
was ihm am ähnlichsten und unähnlichsten ist, sich am besten erkennen kann
(Gott sich am gekreuzigten Christus, der Allmächtige in dem machtlosen, von
Ihm verlassenen Sohne), sollten wir von keinem et^x« der Philosophie
sprechen____Daß ein Wesen von der Art wie Christus, heiß es nun wie es
wolle, der Menschheit so unentbehrlich ist als der Compaß dem Seefahrer,
davon bin ich so gewiß, wie ich von dem Vorhandensein irgend eines physischen
Bedürfnisses und von der Schicklichkeit irgend eines sich darauf beziehenden
Objekts gewiß sein kann. Daß es ewiges Leben sein muß, Gott durch ein
solch Medium zu erkennen, daran kann ich nicht zweifeln. Die Schwierigkeit
liegt nicht in dem Mittel, sondern in dem Mittel zum Mittel. Dies hab ich
noch nicht gefunden — heilig und selig, der es findet und mir erlaubt, mich
unter seine Ferse zu setzen, wenn er mich lehren will, wie ich es suchen soll."
— „Es müssen Christen in der Welt sein, so gewiß ein Christus im Him¬
mel ist. apostolische Christen. Initiirte durch Handauflegung. . . Uns fehlt die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/31>, abgerufen am 15.05.2024.