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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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erscheint. -- Von allen diesen Neuigkeiten heben Mr um zwei hervor, die
auf die Sache eingehn.

In der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften hat Professor
Drobisch am 12. Dec. 1859 einen Vortrag gehalten, der sich hauptsachlich
über Schiller's philosophische Arbeiten verbreitet und wenigstens theilweise
gegen Kuno Fischer polemisirt. Beide Gelehrte, die hier als Fachmänner
wol gehört werden müssen, stimmen darin überein, daß diese Arbeiten für
die Philosophie der Geschichte von Wichtigkeit sind, sie weichen aber darin
von einander ab. daß Fischer behauptet, Schiller sei in seiner ästhetisch-
moralischen Entwickelung allmälrg von dem Princip Kant's zu dem Princip
Goethes übergegangen; während Drobisch nachzuweisen sucht, er habe Goethe
gegenüber in der Hauptsache stets am Kantischen Princip festgehalten. --
Beiden ist ein factischer Irrthum begegnet. Fischer, der sich bemüht in Schil¬
lers philosophischer Entwickelung einen stetigen Fortschritt zu finden, hat
einen Körner'schen Brief, den Schiller mit Verwunderung und entschiedener
Opposition in die Thalia ausnahm, Schiller beigelegt, und daran Folge¬
rungen geknüpft, die natürlich mit dieser Voraussetzung fallen müssen. Der
Irrthum von Drobisch ist freilich nicht so stark, aber er ist doch auch nicht
unwesentlich. Um nämlich nachzuweisen, daß Schiller den Kant'scheu Glauben
auch nach den "ästhetischen Briefen" festhielt, führt er S. 187 die Abhandlung
"über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen" an. In dieser
Abhandlung wird freilich der Kantische Glaube viel stärker betont als in den
ästhetischen Briefen, ja fast noch stärker als in "Anmuth und Würde". Aber
sie ist nicht nach, sondern vor den ästhetischen Briefen geschrieben; sie ist
zwar erst Nov. 1795 gedruckt, aber bereits in Schwaben Oct. 1793 ge¬
schrieben: ein Umstand, den Schiller nnsdrücklich gegen Körner anführt, um
sich wegen der Vorwürfe desselben gegen diesen Aufsatz zu entschuldigen. --
Um die Frage selbst zu entscheiden, muß man sich nicht auf die philosophischen
Abhandlungen beschränken, sondern auch die Gedichte und Briefe ins Auge fassen,
die Schiller namentlich seit 1797 viel mehr interessirten als alles was er in Prosa
schrieb. Von diesem Standpunkt aus können wir nicht umhin, entschieden auf Fi¬
scher's Seite zu treten. Goethe ist durchaus kein Polemiker; wenn sein Freund
mit einer gewissen Heftigkeit eine Ansicht vertritt, so schweigt er still, aber
nicht weil er überzeugt wäre, sondern er wartet nur die richtige Stimmung
ab, um mit der entgegengesetzten Ansicht offen hervorzutreten. Nachdem sich
Schiller zuerst über den Wilhelm Meister mit einer unbedingten Begeisterung
ausgesprochen und das Kunstwerk als solches ohne alle Beimischung sittlicher
Gedanken für das Höchste erklärt, läßt er sich allmälig zu der Idee steigern,
das Genie beruhe aus dem Bewußtlosen, worauf denn Goethe den letzten
Trumpf ausspielt, daß er noch weiter gehe, und daß alles, was das Genie


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erscheint. — Von allen diesen Neuigkeiten heben Mr um zwei hervor, die
auf die Sache eingehn.

In der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften hat Professor
Drobisch am 12. Dec. 1859 einen Vortrag gehalten, der sich hauptsachlich
über Schiller's philosophische Arbeiten verbreitet und wenigstens theilweise
gegen Kuno Fischer polemisirt. Beide Gelehrte, die hier als Fachmänner
wol gehört werden müssen, stimmen darin überein, daß diese Arbeiten für
die Philosophie der Geschichte von Wichtigkeit sind, sie weichen aber darin
von einander ab. daß Fischer behauptet, Schiller sei in seiner ästhetisch-
moralischen Entwickelung allmälrg von dem Princip Kant's zu dem Princip
Goethes übergegangen; während Drobisch nachzuweisen sucht, er habe Goethe
gegenüber in der Hauptsache stets am Kantischen Princip festgehalten. —
Beiden ist ein factischer Irrthum begegnet. Fischer, der sich bemüht in Schil¬
lers philosophischer Entwickelung einen stetigen Fortschritt zu finden, hat
einen Körner'schen Brief, den Schiller mit Verwunderung und entschiedener
Opposition in die Thalia ausnahm, Schiller beigelegt, und daran Folge¬
rungen geknüpft, die natürlich mit dieser Voraussetzung fallen müssen. Der
Irrthum von Drobisch ist freilich nicht so stark, aber er ist doch auch nicht
unwesentlich. Um nämlich nachzuweisen, daß Schiller den Kant'scheu Glauben
auch nach den „ästhetischen Briefen" festhielt, führt er S. 187 die Abhandlung
„über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen" an. In dieser
Abhandlung wird freilich der Kantische Glaube viel stärker betont als in den
ästhetischen Briefen, ja fast noch stärker als in „Anmuth und Würde". Aber
sie ist nicht nach, sondern vor den ästhetischen Briefen geschrieben; sie ist
zwar erst Nov. 1795 gedruckt, aber bereits in Schwaben Oct. 1793 ge¬
schrieben: ein Umstand, den Schiller nnsdrücklich gegen Körner anführt, um
sich wegen der Vorwürfe desselben gegen diesen Aufsatz zu entschuldigen. —
Um die Frage selbst zu entscheiden, muß man sich nicht auf die philosophischen
Abhandlungen beschränken, sondern auch die Gedichte und Briefe ins Auge fassen,
die Schiller namentlich seit 1797 viel mehr interessirten als alles was er in Prosa
schrieb. Von diesem Standpunkt aus können wir nicht umhin, entschieden auf Fi¬
scher's Seite zu treten. Goethe ist durchaus kein Polemiker; wenn sein Freund
mit einer gewissen Heftigkeit eine Ansicht vertritt, so schweigt er still, aber
nicht weil er überzeugt wäre, sondern er wartet nur die richtige Stimmung
ab, um mit der entgegengesetzten Ansicht offen hervorzutreten. Nachdem sich
Schiller zuerst über den Wilhelm Meister mit einer unbedingten Begeisterung
ausgesprochen und das Kunstwerk als solches ohne alle Beimischung sittlicher
Gedanken für das Höchste erklärt, läßt er sich allmälig zu der Idee steigern,
das Genie beruhe aus dem Bewußtlosen, worauf denn Goethe den letzten
Trumpf ausspielt, daß er noch weiter gehe, und daß alles, was das Genie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/423>, abgerufen am 15.05.2024.