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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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unaufhörlich protestirt haben: verfassungsmäßige Regierung und parlamenta¬
rische Regierung sei identisch, d. h. in Preußen werde wie in England die
Krone veranlaßt sein, ihre Rathgeber aus der Majorität des Landtags zu
wählen, und demnach würden je nach dieser Majorität bald Whigs bald
Tones, bald Liberale bald Konservative am Nuder sein. Soweit sind wir
noch lange nicht, und wir bezweifeln sehr, ob Preußen bei dem Provisorischen
seiner geographischen Lage jemals dahin kommen wird. Dagegen hat nach
unserer.Ueberzeugung der Landtag noch eine andere eben so wichtige Aufgabe,
die Regierung, gleichviel welcher Partei sie angehöre, zu controlliren, und sie
von jedem Uebergriff in die Rechte und das Vermögen des Volkes zurück
zu halten.

Das vorige Ministerium hat, abgesehen von seiner beklagenswerthen
Richtung im allgemeinen, durch polizeiliche Uebergriffe in alle Theile des Le¬
bens, durch Störung der alt-preußischen Beamtengewissenhaftigkeit und dadurch,
daß sie bei ihren Beamten die politische Anhänglichkeit an ein bestimmtes
System über die Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit des Dienstes, über die
Dienstcrfahrung und Dienstbcfähigung stellte, den preußischen Staat, der nicht
erst 185" constituirt wurde, sondern seit Jahrhunderten fest stand, in seiner
Wurzel angegriffen; es hat alle schlechten Seiten des konstitutionellen Lebens
getreulich bei uns eingeführt, alle guten hintertrieben. Man erwartete von
der neuen Regentschaft die Abstellung dieser Mißbräuche und die Ersetzung
derjenigen höhern oder niedern Beamten, die bei Herrn Wagener. Gödsche
u. s. w. studirt hatten, durch solche, welche die alt-preußische Schule durch¬
gemacht und an die alt-preußische Amtsehre und Amtspflicht sich gewöhnt
hatten.

Es geschah mehr und weniger als man erwartet. Mehr: denn man sah
plötzlich die Führer der liberalen Partei im Ministerium; weniger: denn die
Gehilfen des H. v. Westphalen blieben größtentheils in ihrem Amt. Aber
man gab sich zufrieden, daß so etwas erst allmälig geschehn könne; man er¬
theilte bei den Wahlen das Feldgeschrei: "ministerielle Partei!" und setzte
sich auf die rechte Seite, um damit anzudeuten, daß jetzt die liberale Partei
den Staat regiere. Im Einzelnen wurde in der That vieles gebessert, aber
die Minister, als ob sie ewig regieren würden, dachten nicht daran, gesetz¬
lich irgend etwas sicher zu stellen; sie begnügten sich mit ministeriellen Ver¬
ordnungen, so wie die Abgeordneten sich mit Petitionen begnügten; beide
ohne irgendwie zu überlegen, daß damit einem neuen Ministerium das alte
Material unklarer und zweideutiger Gesetze überlassen blieb, um es wieder in
der alten Weise auszulegen, zu drehen und zu wenden. Der Grund war
bei beiden, daß sie bei jedem Gesetzvorschlag den Widerstand des Herrenhauses
fürchteten. Das hieß aber freilich die Schwierigkeiten nicht beseitigen, sondern


unaufhörlich protestirt haben: verfassungsmäßige Regierung und parlamenta¬
rische Regierung sei identisch, d. h. in Preußen werde wie in England die
Krone veranlaßt sein, ihre Rathgeber aus der Majorität des Landtags zu
wählen, und demnach würden je nach dieser Majorität bald Whigs bald
Tones, bald Liberale bald Konservative am Nuder sein. Soweit sind wir
noch lange nicht, und wir bezweifeln sehr, ob Preußen bei dem Provisorischen
seiner geographischen Lage jemals dahin kommen wird. Dagegen hat nach
unserer.Ueberzeugung der Landtag noch eine andere eben so wichtige Aufgabe,
die Regierung, gleichviel welcher Partei sie angehöre, zu controlliren, und sie
von jedem Uebergriff in die Rechte und das Vermögen des Volkes zurück
zu halten.

Das vorige Ministerium hat, abgesehen von seiner beklagenswerthen
Richtung im allgemeinen, durch polizeiliche Uebergriffe in alle Theile des Le¬
bens, durch Störung der alt-preußischen Beamtengewissenhaftigkeit und dadurch,
daß sie bei ihren Beamten die politische Anhänglichkeit an ein bestimmtes
System über die Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit des Dienstes, über die
Dienstcrfahrung und Dienstbcfähigung stellte, den preußischen Staat, der nicht
erst 185« constituirt wurde, sondern seit Jahrhunderten fest stand, in seiner
Wurzel angegriffen; es hat alle schlechten Seiten des konstitutionellen Lebens
getreulich bei uns eingeführt, alle guten hintertrieben. Man erwartete von
der neuen Regentschaft die Abstellung dieser Mißbräuche und die Ersetzung
derjenigen höhern oder niedern Beamten, die bei Herrn Wagener. Gödsche
u. s. w. studirt hatten, durch solche, welche die alt-preußische Schule durch¬
gemacht und an die alt-preußische Amtsehre und Amtspflicht sich gewöhnt
hatten.

Es geschah mehr und weniger als man erwartet. Mehr: denn man sah
plötzlich die Führer der liberalen Partei im Ministerium; weniger: denn die
Gehilfen des H. v. Westphalen blieben größtentheils in ihrem Amt. Aber
man gab sich zufrieden, daß so etwas erst allmälig geschehn könne; man er¬
theilte bei den Wahlen das Feldgeschrei: „ministerielle Partei!" und setzte
sich auf die rechte Seite, um damit anzudeuten, daß jetzt die liberale Partei
den Staat regiere. Im Einzelnen wurde in der That vieles gebessert, aber
die Minister, als ob sie ewig regieren würden, dachten nicht daran, gesetz¬
lich irgend etwas sicher zu stellen; sie begnügten sich mit ministeriellen Ver¬
ordnungen, so wie die Abgeordneten sich mit Petitionen begnügten; beide
ohne irgendwie zu überlegen, daß damit einem neuen Ministerium das alte
Material unklarer und zweideutiger Gesetze überlassen blieb, um es wieder in
der alten Weise auszulegen, zu drehen und zu wenden. Der Grund war
bei beiden, daß sie bei jedem Gesetzvorschlag den Widerstand des Herrenhauses
fürchteten. Das hieß aber freilich die Schwierigkeiten nicht beseitigen, sondern


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[0458] unaufhörlich protestirt haben: verfassungsmäßige Regierung und parlamenta¬ rische Regierung sei identisch, d. h. in Preußen werde wie in England die Krone veranlaßt sein, ihre Rathgeber aus der Majorität des Landtags zu wählen, und demnach würden je nach dieser Majorität bald Whigs bald Tones, bald Liberale bald Konservative am Nuder sein. Soweit sind wir noch lange nicht, und wir bezweifeln sehr, ob Preußen bei dem Provisorischen seiner geographischen Lage jemals dahin kommen wird. Dagegen hat nach unserer.Ueberzeugung der Landtag noch eine andere eben so wichtige Aufgabe, die Regierung, gleichviel welcher Partei sie angehöre, zu controlliren, und sie von jedem Uebergriff in die Rechte und das Vermögen des Volkes zurück zu halten. Das vorige Ministerium hat, abgesehen von seiner beklagenswerthen Richtung im allgemeinen, durch polizeiliche Uebergriffe in alle Theile des Le¬ bens, durch Störung der alt-preußischen Beamtengewissenhaftigkeit und dadurch, daß sie bei ihren Beamten die politische Anhänglichkeit an ein bestimmtes System über die Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit des Dienstes, über die Dienstcrfahrung und Dienstbcfähigung stellte, den preußischen Staat, der nicht erst 185« constituirt wurde, sondern seit Jahrhunderten fest stand, in seiner Wurzel angegriffen; es hat alle schlechten Seiten des konstitutionellen Lebens getreulich bei uns eingeführt, alle guten hintertrieben. Man erwartete von der neuen Regentschaft die Abstellung dieser Mißbräuche und die Ersetzung derjenigen höhern oder niedern Beamten, die bei Herrn Wagener. Gödsche u. s. w. studirt hatten, durch solche, welche die alt-preußische Schule durch¬ gemacht und an die alt-preußische Amtsehre und Amtspflicht sich gewöhnt hatten. Es geschah mehr und weniger als man erwartet. Mehr: denn man sah plötzlich die Führer der liberalen Partei im Ministerium; weniger: denn die Gehilfen des H. v. Westphalen blieben größtentheils in ihrem Amt. Aber man gab sich zufrieden, daß so etwas erst allmälig geschehn könne; man er¬ theilte bei den Wahlen das Feldgeschrei: „ministerielle Partei!" und setzte sich auf die rechte Seite, um damit anzudeuten, daß jetzt die liberale Partei den Staat regiere. Im Einzelnen wurde in der That vieles gebessert, aber die Minister, als ob sie ewig regieren würden, dachten nicht daran, gesetz¬ lich irgend etwas sicher zu stellen; sie begnügten sich mit ministeriellen Ver¬ ordnungen, so wie die Abgeordneten sich mit Petitionen begnügten; beide ohne irgendwie zu überlegen, daß damit einem neuen Ministerium das alte Material unklarer und zweideutiger Gesetze überlassen blieb, um es wieder in der alten Weise auszulegen, zu drehen und zu wenden. Der Grund war bei beiden, daß sie bei jedem Gesetzvorschlag den Widerstand des Herrenhauses fürchteten. Das hieß aber freilich die Schwierigkeiten nicht beseitigen, sondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/458>, abgerufen am 15.05.2024.