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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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stücke ohne Anfang, Mitte und Ende, philosophische Systeme, in denen die
Worte aus der deutschen Sprache in einem ganz andern Sinn genommen
wurden als der Sprachgebrauch verlangt, und deren Fortschritt nur dadurch
vermittelt wurde, daß man den esoterischen Sinn alle Augenblicke an Stelle
des esoterischen feste und umgekehrt: -- das waren die Unarten, die über
ein Menschenalter hindurch unsere Literatur charakterisirten und von deren
Mitschuld unsere Heroen nicht frei zu sprechen sind. Für diese Fehler ist die
Literatur der Franzosen ein sehr zweckmäßiges Correctiv, denn mit sehr wenig
Ausnahmen erzählen sie nicht anders als so, daß man weiß was wirklich vor¬
gefallen ist; sie schreiben ihre Dramen mit Rücksicht auf die Ausführung, also
mit Anfang, Mitte und Schluß; sie bedienen sich in ihrer Philosophie der durch
die Grammatik festgesetzten Sprachregeln, und wenn sie leichtsinnig und ober¬
flächlich motiviren, so bleibt man wenigstens über die Absichten nicht in Zwei¬
fel, die der Dichter gehabt hat.

Nach einer andern Seite hin waren uns die englischen Romane nützlich.
Die geistreiche Gesellschaft hatte sich in unsern guten Tagen so von den ge¬
wöhnlichen Menschenkindern isolirt, daß sie leicht den Boden unter ihren Fü¬
ßen verlor und daß ihr Idealismus wie eine Flucht aus der Wirklichkeit aus¬
sah. Im Gedicht kann die Trennung von den Dingen dieser Welt sehr
reizend wirken; im Roman dagegen, der sich bei seiner ausführlichen und
breiten Darstellung wenigstens den Schein einer realen Welt erfinden muß,
führt der Idealismus nicht selten zum Gegentheil dessen was er beabsichtigt.
Denn da er nur auf den Geist der betreffenden Personen Rücksicht nimmt,
und den Geist hauptsächlich in Urtheilen über ästhetische, religiöse und ähn¬
liche Dinge sucht, so wird er leicht verführt, sich auf den Kreis derjenigen zu
beschränken, die aus diesem Geist Profession machen, d. h. auf den Kreis der
Künstler und Literaten, und auf diese Weise Ausnahme-Zustände typisch zu
behandeln. Die Engländer haben zu allen Zeiten einen größern Sinn für
die Realität gehabt, und von dem unsterblichen Pfarrer von Wcikcsield, von
Tom Jones und Peregrine Platte herab bis auf unsere Tage trifft man in
ihren Romanen nur Figuren an, die neben dem Geist auch noch andere Eigen¬
schaften haben, die sich über "Shakespeare, den Geschmack und musikalische
Gläser" nur in ihren Nebenstunden unterhalten, und die nicht blos urtheilen,
sondern auch leben.

Dies sind die Gründe, warum in neuerer Zeit, im Durchschnitt genommen,
der englische und französische Roman' mehr Eingang gefunden hat, als der
deutsche. In den letzten Jahren ist gegen die alte Weise zu schaffe" bei uns
eine sehr erfreuliche Reaction eingetreten; man bemüht sich deutlich und zu¬
sammenhängend zu erzählen und sich durch ernste Beobachtung des wirklichen
Lebens auf die poetischen Erfindungen vorzubereiten. Da unsere Kkast noch


stücke ohne Anfang, Mitte und Ende, philosophische Systeme, in denen die
Worte aus der deutschen Sprache in einem ganz andern Sinn genommen
wurden als der Sprachgebrauch verlangt, und deren Fortschritt nur dadurch
vermittelt wurde, daß man den esoterischen Sinn alle Augenblicke an Stelle
des esoterischen feste und umgekehrt: — das waren die Unarten, die über
ein Menschenalter hindurch unsere Literatur charakterisirten und von deren
Mitschuld unsere Heroen nicht frei zu sprechen sind. Für diese Fehler ist die
Literatur der Franzosen ein sehr zweckmäßiges Correctiv, denn mit sehr wenig
Ausnahmen erzählen sie nicht anders als so, daß man weiß was wirklich vor¬
gefallen ist; sie schreiben ihre Dramen mit Rücksicht auf die Ausführung, also
mit Anfang, Mitte und Schluß; sie bedienen sich in ihrer Philosophie der durch
die Grammatik festgesetzten Sprachregeln, und wenn sie leichtsinnig und ober¬
flächlich motiviren, so bleibt man wenigstens über die Absichten nicht in Zwei¬
fel, die der Dichter gehabt hat.

Nach einer andern Seite hin waren uns die englischen Romane nützlich.
Die geistreiche Gesellschaft hatte sich in unsern guten Tagen so von den ge¬
wöhnlichen Menschenkindern isolirt, daß sie leicht den Boden unter ihren Fü¬
ßen verlor und daß ihr Idealismus wie eine Flucht aus der Wirklichkeit aus¬
sah. Im Gedicht kann die Trennung von den Dingen dieser Welt sehr
reizend wirken; im Roman dagegen, der sich bei seiner ausführlichen und
breiten Darstellung wenigstens den Schein einer realen Welt erfinden muß,
führt der Idealismus nicht selten zum Gegentheil dessen was er beabsichtigt.
Denn da er nur auf den Geist der betreffenden Personen Rücksicht nimmt,
und den Geist hauptsächlich in Urtheilen über ästhetische, religiöse und ähn¬
liche Dinge sucht, so wird er leicht verführt, sich auf den Kreis derjenigen zu
beschränken, die aus diesem Geist Profession machen, d. h. auf den Kreis der
Künstler und Literaten, und auf diese Weise Ausnahme-Zustände typisch zu
behandeln. Die Engländer haben zu allen Zeiten einen größern Sinn für
die Realität gehabt, und von dem unsterblichen Pfarrer von Wcikcsield, von
Tom Jones und Peregrine Platte herab bis auf unsere Tage trifft man in
ihren Romanen nur Figuren an, die neben dem Geist auch noch andere Eigen¬
schaften haben, die sich über „Shakespeare, den Geschmack und musikalische
Gläser" nur in ihren Nebenstunden unterhalten, und die nicht blos urtheilen,
sondern auch leben.

Dies sind die Gründe, warum in neuerer Zeit, im Durchschnitt genommen,
der englische und französische Roman' mehr Eingang gefunden hat, als der
deutsche. In den letzten Jahren ist gegen die alte Weise zu schaffe» bei uns
eine sehr erfreuliche Reaction eingetreten; man bemüht sich deutlich und zu¬
sammenhängend zu erzählen und sich durch ernste Beobachtung des wirklichen
Lebens auf die poetischen Erfindungen vorzubereiten. Da unsere Kkast noch


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[0481] stücke ohne Anfang, Mitte und Ende, philosophische Systeme, in denen die Worte aus der deutschen Sprache in einem ganz andern Sinn genommen wurden als der Sprachgebrauch verlangt, und deren Fortschritt nur dadurch vermittelt wurde, daß man den esoterischen Sinn alle Augenblicke an Stelle des esoterischen feste und umgekehrt: — das waren die Unarten, die über ein Menschenalter hindurch unsere Literatur charakterisirten und von deren Mitschuld unsere Heroen nicht frei zu sprechen sind. Für diese Fehler ist die Literatur der Franzosen ein sehr zweckmäßiges Correctiv, denn mit sehr wenig Ausnahmen erzählen sie nicht anders als so, daß man weiß was wirklich vor¬ gefallen ist; sie schreiben ihre Dramen mit Rücksicht auf die Ausführung, also mit Anfang, Mitte und Schluß; sie bedienen sich in ihrer Philosophie der durch die Grammatik festgesetzten Sprachregeln, und wenn sie leichtsinnig und ober¬ flächlich motiviren, so bleibt man wenigstens über die Absichten nicht in Zwei¬ fel, die der Dichter gehabt hat. Nach einer andern Seite hin waren uns die englischen Romane nützlich. Die geistreiche Gesellschaft hatte sich in unsern guten Tagen so von den ge¬ wöhnlichen Menschenkindern isolirt, daß sie leicht den Boden unter ihren Fü¬ ßen verlor und daß ihr Idealismus wie eine Flucht aus der Wirklichkeit aus¬ sah. Im Gedicht kann die Trennung von den Dingen dieser Welt sehr reizend wirken; im Roman dagegen, der sich bei seiner ausführlichen und breiten Darstellung wenigstens den Schein einer realen Welt erfinden muß, führt der Idealismus nicht selten zum Gegentheil dessen was er beabsichtigt. Denn da er nur auf den Geist der betreffenden Personen Rücksicht nimmt, und den Geist hauptsächlich in Urtheilen über ästhetische, religiöse und ähn¬ liche Dinge sucht, so wird er leicht verführt, sich auf den Kreis derjenigen zu beschränken, die aus diesem Geist Profession machen, d. h. auf den Kreis der Künstler und Literaten, und auf diese Weise Ausnahme-Zustände typisch zu behandeln. Die Engländer haben zu allen Zeiten einen größern Sinn für die Realität gehabt, und von dem unsterblichen Pfarrer von Wcikcsield, von Tom Jones und Peregrine Platte herab bis auf unsere Tage trifft man in ihren Romanen nur Figuren an, die neben dem Geist auch noch andere Eigen¬ schaften haben, die sich über „Shakespeare, den Geschmack und musikalische Gläser" nur in ihren Nebenstunden unterhalten, und die nicht blos urtheilen, sondern auch leben. Dies sind die Gründe, warum in neuerer Zeit, im Durchschnitt genommen, der englische und französische Roman' mehr Eingang gefunden hat, als der deutsche. In den letzten Jahren ist gegen die alte Weise zu schaffe» bei uns eine sehr erfreuliche Reaction eingetreten; man bemüht sich deutlich und zu¬ sammenhängend zu erzählen und sich durch ernste Beobachtung des wirklichen Lebens auf die poetischen Erfindungen vorzubereiten. Da unsere Kkast noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/481>, abgerufen am 14.05.2024.