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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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sie. namentlich in den westlichen Gouvernements und in Polen, eine geheime
Gesellschaft. Einige Spione wurden veranlaßt, eine Anzeige zu machen, auf
deren Grund man reiche oder wohlhabende Leute ins Gefängniß warf, um
ihnen hier die Wahl zu lassen, entweder sich mit einer beträchtlichen Summe
loszukaufen oder nach allerhand Martern ins Exil geschickt zu werden und ihr
Vermögen confiscire zu sehen. In jeder Provinz Rußlands gab es einen mit
der politischen Polizei beauftragten Gcndarmenoberst. Ganz Rußland war in
Kreise getheilt, denen Gendarmeriegenerale vorstanden. Diese Obersten und
Generale waren gehalten, jedes Jahr an den obersten Chef der Polizei einen
von diesem festgesetzten Tribut zu zahlen, der nach der Wichtigkeit des betref¬
fenden Kreises oder der Provinz ein verschiedener war. Das meiste entrichteten
die. welche im Westen fungirten. Hier wurden von ihnen fast alle polnischen
Gutsbesitzer taxirt und nach der Größe ihres Vermögens von der Gendarmerie
besteuert. Wehe dem. der sich mit Entrichtung dieser Steuer für die Tasche
der Polizeichefs säumig zeigte! Bei Nacht abgeholt, eingesperrt, bedroht, hatte
er außer seinem Tribut noch Strafe für seine Unpünktlichkeit zu zahlen, wo
nicht, so kam er wegen politischer Verbrechen nach Sibirien und seine Güter
sielen dem Staat anheim.

In den übrigen Provinzen konnte man die Güter nicht confisciren, wol
aber die Individuen nöthigen, sich zu ranzioniren. Der Verfasser erlebte ein
Beispiel davon an sich selbst. Er wurde 1843 auf ein erfundenes Vergehen
hin verhaftet. Da kam eines Tages ein gewisser Marc, der Kammerdiener
des Chefs der politischen Polizei, zu ihm, um ihm zu sagen, daß er augen¬
blicklich in Freiheit gesetzt werden solle, wofern er sich zur Zahlung von 25.000
Rubel verstehe. Er weigerte sich, und wenige Tage nachher wurde er nach
Wiätka in die Verbannung geschickt.

1856 schien dies anders werden zu sollen. Der jetzige Kaiser stellte an
die Spitze der Polizei einen frühern Minister, der im Rufe eines rechtschaffnen
Mannes stand. Derselbe war indeß leider ein Gegner alles Fortschritts, der
nicht begriff, daß Rußland ohne ernstliche Reformen dem Untergang entgegen¬
geht. Unter ihm führte der General T. das Ruder, ein feiner Kopf und un¬
bescholtener Charakter, wie die Camarilla. zu der er gerechnet wird, nicht viele
zählt, aber zu gleicher Zeit ein heftiges, zu Gewaltthaten aller Art aufgelegtes
Temperament. Es soll ihm auf Reisen im Auslande begegnet sein, daß er
sich fast zu freisinnigen Grundsätzen bekannte, aber in Rußland ist er. wie
unsre Schrift sagt, nichts als der Tartar im Frack, sein System ein dreifach
abgezogner Despotismus.

So bieten die gegenwärtigen Zustände Rußlands auch nach dieser Seite
hin das Schauspiel eines fortdauernden Kampfes der auf die Camarilla und
die politische Polizei gestützten Bureaukratie gegen die öffentliche Meinung und


sie. namentlich in den westlichen Gouvernements und in Polen, eine geheime
Gesellschaft. Einige Spione wurden veranlaßt, eine Anzeige zu machen, auf
deren Grund man reiche oder wohlhabende Leute ins Gefängniß warf, um
ihnen hier die Wahl zu lassen, entweder sich mit einer beträchtlichen Summe
loszukaufen oder nach allerhand Martern ins Exil geschickt zu werden und ihr
Vermögen confiscire zu sehen. In jeder Provinz Rußlands gab es einen mit
der politischen Polizei beauftragten Gcndarmenoberst. Ganz Rußland war in
Kreise getheilt, denen Gendarmeriegenerale vorstanden. Diese Obersten und
Generale waren gehalten, jedes Jahr an den obersten Chef der Polizei einen
von diesem festgesetzten Tribut zu zahlen, der nach der Wichtigkeit des betref¬
fenden Kreises oder der Provinz ein verschiedener war. Das meiste entrichteten
die. welche im Westen fungirten. Hier wurden von ihnen fast alle polnischen
Gutsbesitzer taxirt und nach der Größe ihres Vermögens von der Gendarmerie
besteuert. Wehe dem. der sich mit Entrichtung dieser Steuer für die Tasche
der Polizeichefs säumig zeigte! Bei Nacht abgeholt, eingesperrt, bedroht, hatte
er außer seinem Tribut noch Strafe für seine Unpünktlichkeit zu zahlen, wo
nicht, so kam er wegen politischer Verbrechen nach Sibirien und seine Güter
sielen dem Staat anheim.

In den übrigen Provinzen konnte man die Güter nicht confisciren, wol
aber die Individuen nöthigen, sich zu ranzioniren. Der Verfasser erlebte ein
Beispiel davon an sich selbst. Er wurde 1843 auf ein erfundenes Vergehen
hin verhaftet. Da kam eines Tages ein gewisser Marc, der Kammerdiener
des Chefs der politischen Polizei, zu ihm, um ihm zu sagen, daß er augen¬
blicklich in Freiheit gesetzt werden solle, wofern er sich zur Zahlung von 25.000
Rubel verstehe. Er weigerte sich, und wenige Tage nachher wurde er nach
Wiätka in die Verbannung geschickt.

1856 schien dies anders werden zu sollen. Der jetzige Kaiser stellte an
die Spitze der Polizei einen frühern Minister, der im Rufe eines rechtschaffnen
Mannes stand. Derselbe war indeß leider ein Gegner alles Fortschritts, der
nicht begriff, daß Rußland ohne ernstliche Reformen dem Untergang entgegen¬
geht. Unter ihm führte der General T. das Ruder, ein feiner Kopf und un¬
bescholtener Charakter, wie die Camarilla. zu der er gerechnet wird, nicht viele
zählt, aber zu gleicher Zeit ein heftiges, zu Gewaltthaten aller Art aufgelegtes
Temperament. Es soll ihm auf Reisen im Auslande begegnet sein, daß er
sich fast zu freisinnigen Grundsätzen bekannte, aber in Rußland ist er. wie
unsre Schrift sagt, nichts als der Tartar im Frack, sein System ein dreifach
abgezogner Despotismus.

So bieten die gegenwärtigen Zustände Rußlands auch nach dieser Seite
hin das Schauspiel eines fortdauernden Kampfes der auf die Camarilla und
die politische Polizei gestützten Bureaukratie gegen die öffentliche Meinung und


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[0154] sie. namentlich in den westlichen Gouvernements und in Polen, eine geheime Gesellschaft. Einige Spione wurden veranlaßt, eine Anzeige zu machen, auf deren Grund man reiche oder wohlhabende Leute ins Gefängniß warf, um ihnen hier die Wahl zu lassen, entweder sich mit einer beträchtlichen Summe loszukaufen oder nach allerhand Martern ins Exil geschickt zu werden und ihr Vermögen confiscire zu sehen. In jeder Provinz Rußlands gab es einen mit der politischen Polizei beauftragten Gcndarmenoberst. Ganz Rußland war in Kreise getheilt, denen Gendarmeriegenerale vorstanden. Diese Obersten und Generale waren gehalten, jedes Jahr an den obersten Chef der Polizei einen von diesem festgesetzten Tribut zu zahlen, der nach der Wichtigkeit des betref¬ fenden Kreises oder der Provinz ein verschiedener war. Das meiste entrichteten die. welche im Westen fungirten. Hier wurden von ihnen fast alle polnischen Gutsbesitzer taxirt und nach der Größe ihres Vermögens von der Gendarmerie besteuert. Wehe dem. der sich mit Entrichtung dieser Steuer für die Tasche der Polizeichefs säumig zeigte! Bei Nacht abgeholt, eingesperrt, bedroht, hatte er außer seinem Tribut noch Strafe für seine Unpünktlichkeit zu zahlen, wo nicht, so kam er wegen politischer Verbrechen nach Sibirien und seine Güter sielen dem Staat anheim. In den übrigen Provinzen konnte man die Güter nicht confisciren, wol aber die Individuen nöthigen, sich zu ranzioniren. Der Verfasser erlebte ein Beispiel davon an sich selbst. Er wurde 1843 auf ein erfundenes Vergehen hin verhaftet. Da kam eines Tages ein gewisser Marc, der Kammerdiener des Chefs der politischen Polizei, zu ihm, um ihm zu sagen, daß er augen¬ blicklich in Freiheit gesetzt werden solle, wofern er sich zur Zahlung von 25.000 Rubel verstehe. Er weigerte sich, und wenige Tage nachher wurde er nach Wiätka in die Verbannung geschickt. 1856 schien dies anders werden zu sollen. Der jetzige Kaiser stellte an die Spitze der Polizei einen frühern Minister, der im Rufe eines rechtschaffnen Mannes stand. Derselbe war indeß leider ein Gegner alles Fortschritts, der nicht begriff, daß Rußland ohne ernstliche Reformen dem Untergang entgegen¬ geht. Unter ihm führte der General T. das Ruder, ein feiner Kopf und un¬ bescholtener Charakter, wie die Camarilla. zu der er gerechnet wird, nicht viele zählt, aber zu gleicher Zeit ein heftiges, zu Gewaltthaten aller Art aufgelegtes Temperament. Es soll ihm auf Reisen im Auslande begegnet sein, daß er sich fast zu freisinnigen Grundsätzen bekannte, aber in Rußland ist er. wie unsre Schrift sagt, nichts als der Tartar im Frack, sein System ein dreifach abgezogner Despotismus. So bieten die gegenwärtigen Zustände Rußlands auch nach dieser Seite hin das Schauspiel eines fortdauernden Kampfes der auf die Camarilla und die politische Polizei gestützten Bureaukratie gegen die öffentliche Meinung und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/154>, abgerufen am 21.05.2024.