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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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sammenzustellm, ohne jedoch den Versuch zu machen, die Lücken und Räthsel,
die er unaufgelöst läßt, psychologisch zu erläutern. Da es aber auf den ersten
Anblick doch zu wunderlich aussieht, wie gerade ein solcher Mann zum Pie¬
tismus kommt, so machen wir auf einen Punkt aufmerksam, der. zwischen dem
letzteren und der geistigen Richtung Mosers etwas Verwandtes verräth.

Der Pietismus war bei seinem ersten historischen Auftreten eine reforma¬
torische Bewegung, gegen dieselbe Macht gerichtet, welche auch Moser als
Lehrer des Staatsrechts bekämpfte: gegen den Dogmatismus der zünftigen
Gelehrsamkeit. Die Herrschaft der zünftigen Gelehrsamkeit über alles gei¬
stige Leben ist die Signatur der Periode, die sich von der Mitte des sech¬
zehnten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hinzieht. Schon mit
Luthers Tod beginnt jene Verknöcherung der Theologie, die den hohen
Begriff des Glaubens, wie ihn Luther aufgestellt, in eine Annahme gewisser
hergebrachter zünftiger Lehrsätze verkehrt. Der Mittelpunkt der Theologie
waren die Universitäten; jeder Gvttesgelehrte hatte sich ein bestimmtes System
ausgearbeitet, wie die ewige Zeugung des ewigen Sohns und ähnliche Dinge
zu verstehn seien, und wenn die Abweichung von dem hergebrachten Lehrbe¬
griff bei dem Fortschritt des Jahrhunderts nicht mehr so traurige Folgen hatte,
wie bei dem armen Server, der deswegen bei langsamem Feuer geröstet wurde,
so wurde doch vom Katheder, von der Kanzel und in den zahllosen Streit¬
schriften jeder nnzünftige Gottesgelehrte, der in der Auslegung des ewigen
Sohns von Facultätsgutachten abwich, figürlich dem Satan und der ewigen
Verdammniß übergeben. Lutheraner und Calvimsten, Flacianer und Calix-
tiner, Arminianer und Coccejaner, und wie sie alle heißen mochten: jeder von
ihnen wies auf dem Katheder nach, inwiefern alle Andern vom richtigen
Lehrbegriff abwichen und folglich ewig verdammt wären; und was auf dem
Katheder gelehrt wurde, das wiederholte sich in volkstümlicher Weise auf den
Kanzeln, wie der ehrliche Gellert in seiner Fabel: "die Bauern und der Amt¬
mann," vortrefflich erzählt. Wenn man behaupten wollte, in dieser Bekämpf¬
ung und Verurtheilrmg abweichender Lehrmeinungen habe das ganze christ¬
liche Leben jener Zeit bestanden, so wäre das freilich ein wenig übertrieben:
aber daß es eben nur ein wenig übertrieben ist, davon kann sich jeder über¬
zeugen, der Tholucks Vorgeschichte des Nationalismus liest, ein Buch das
auch in anderer Beziehung ernsthaftes Studium verdient.

Dieselbe Herrschaft der zünftigen Gelehrsamkeit zeigt sich in den übrigen
Gebieten des geistigen Lebens: in der Jurisprudenz, wo über den Spitzfindig¬
keiten der römischen Casuistik jeder Begriff eines lebendigen Rechts zu Grunde
ging, in der Medicin, in der Philosophie, die durch die formale Logik jeden
wirklichen Gedanken erstickte, ja selbst in der Dichtkunst, die sich allmülig von
der Tabulatur der Meistersänger zu den Regeln von Boileau und Batteux er-


sammenzustellm, ohne jedoch den Versuch zu machen, die Lücken und Räthsel,
die er unaufgelöst läßt, psychologisch zu erläutern. Da es aber auf den ersten
Anblick doch zu wunderlich aussieht, wie gerade ein solcher Mann zum Pie¬
tismus kommt, so machen wir auf einen Punkt aufmerksam, der. zwischen dem
letzteren und der geistigen Richtung Mosers etwas Verwandtes verräth.

Der Pietismus war bei seinem ersten historischen Auftreten eine reforma¬
torische Bewegung, gegen dieselbe Macht gerichtet, welche auch Moser als
Lehrer des Staatsrechts bekämpfte: gegen den Dogmatismus der zünftigen
Gelehrsamkeit. Die Herrschaft der zünftigen Gelehrsamkeit über alles gei¬
stige Leben ist die Signatur der Periode, die sich von der Mitte des sech¬
zehnten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hinzieht. Schon mit
Luthers Tod beginnt jene Verknöcherung der Theologie, die den hohen
Begriff des Glaubens, wie ihn Luther aufgestellt, in eine Annahme gewisser
hergebrachter zünftiger Lehrsätze verkehrt. Der Mittelpunkt der Theologie
waren die Universitäten; jeder Gvttesgelehrte hatte sich ein bestimmtes System
ausgearbeitet, wie die ewige Zeugung des ewigen Sohns und ähnliche Dinge
zu verstehn seien, und wenn die Abweichung von dem hergebrachten Lehrbe¬
griff bei dem Fortschritt des Jahrhunderts nicht mehr so traurige Folgen hatte,
wie bei dem armen Server, der deswegen bei langsamem Feuer geröstet wurde,
so wurde doch vom Katheder, von der Kanzel und in den zahllosen Streit¬
schriften jeder nnzünftige Gottesgelehrte, der in der Auslegung des ewigen
Sohns von Facultätsgutachten abwich, figürlich dem Satan und der ewigen
Verdammniß übergeben. Lutheraner und Calvimsten, Flacianer und Calix-
tiner, Arminianer und Coccejaner, und wie sie alle heißen mochten: jeder von
ihnen wies auf dem Katheder nach, inwiefern alle Andern vom richtigen
Lehrbegriff abwichen und folglich ewig verdammt wären; und was auf dem
Katheder gelehrt wurde, das wiederholte sich in volkstümlicher Weise auf den
Kanzeln, wie der ehrliche Gellert in seiner Fabel: „die Bauern und der Amt¬
mann," vortrefflich erzählt. Wenn man behaupten wollte, in dieser Bekämpf¬
ung und Verurtheilrmg abweichender Lehrmeinungen habe das ganze christ¬
liche Leben jener Zeit bestanden, so wäre das freilich ein wenig übertrieben:
aber daß es eben nur ein wenig übertrieben ist, davon kann sich jeder über¬
zeugen, der Tholucks Vorgeschichte des Nationalismus liest, ein Buch das
auch in anderer Beziehung ernsthaftes Studium verdient.

Dieselbe Herrschaft der zünftigen Gelehrsamkeit zeigt sich in den übrigen
Gebieten des geistigen Lebens: in der Jurisprudenz, wo über den Spitzfindig¬
keiten der römischen Casuistik jeder Begriff eines lebendigen Rechts zu Grunde
ging, in der Medicin, in der Philosophie, die durch die formale Logik jeden
wirklichen Gedanken erstickte, ja selbst in der Dichtkunst, die sich allmülig von
der Tabulatur der Meistersänger zu den Regeln von Boileau und Batteux er-


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[0174] sammenzustellm, ohne jedoch den Versuch zu machen, die Lücken und Räthsel, die er unaufgelöst läßt, psychologisch zu erläutern. Da es aber auf den ersten Anblick doch zu wunderlich aussieht, wie gerade ein solcher Mann zum Pie¬ tismus kommt, so machen wir auf einen Punkt aufmerksam, der. zwischen dem letzteren und der geistigen Richtung Mosers etwas Verwandtes verräth. Der Pietismus war bei seinem ersten historischen Auftreten eine reforma¬ torische Bewegung, gegen dieselbe Macht gerichtet, welche auch Moser als Lehrer des Staatsrechts bekämpfte: gegen den Dogmatismus der zünftigen Gelehrsamkeit. Die Herrschaft der zünftigen Gelehrsamkeit über alles gei¬ stige Leben ist die Signatur der Periode, die sich von der Mitte des sech¬ zehnten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hinzieht. Schon mit Luthers Tod beginnt jene Verknöcherung der Theologie, die den hohen Begriff des Glaubens, wie ihn Luther aufgestellt, in eine Annahme gewisser hergebrachter zünftiger Lehrsätze verkehrt. Der Mittelpunkt der Theologie waren die Universitäten; jeder Gvttesgelehrte hatte sich ein bestimmtes System ausgearbeitet, wie die ewige Zeugung des ewigen Sohns und ähnliche Dinge zu verstehn seien, und wenn die Abweichung von dem hergebrachten Lehrbe¬ griff bei dem Fortschritt des Jahrhunderts nicht mehr so traurige Folgen hatte, wie bei dem armen Server, der deswegen bei langsamem Feuer geröstet wurde, so wurde doch vom Katheder, von der Kanzel und in den zahllosen Streit¬ schriften jeder nnzünftige Gottesgelehrte, der in der Auslegung des ewigen Sohns von Facultätsgutachten abwich, figürlich dem Satan und der ewigen Verdammniß übergeben. Lutheraner und Calvimsten, Flacianer und Calix- tiner, Arminianer und Coccejaner, und wie sie alle heißen mochten: jeder von ihnen wies auf dem Katheder nach, inwiefern alle Andern vom richtigen Lehrbegriff abwichen und folglich ewig verdammt wären; und was auf dem Katheder gelehrt wurde, das wiederholte sich in volkstümlicher Weise auf den Kanzeln, wie der ehrliche Gellert in seiner Fabel: „die Bauern und der Amt¬ mann," vortrefflich erzählt. Wenn man behaupten wollte, in dieser Bekämpf¬ ung und Verurtheilrmg abweichender Lehrmeinungen habe das ganze christ¬ liche Leben jener Zeit bestanden, so wäre das freilich ein wenig übertrieben: aber daß es eben nur ein wenig übertrieben ist, davon kann sich jeder über¬ zeugen, der Tholucks Vorgeschichte des Nationalismus liest, ein Buch das auch in anderer Beziehung ernsthaftes Studium verdient. Dieselbe Herrschaft der zünftigen Gelehrsamkeit zeigt sich in den übrigen Gebieten des geistigen Lebens: in der Jurisprudenz, wo über den Spitzfindig¬ keiten der römischen Casuistik jeder Begriff eines lebendigen Rechts zu Grunde ging, in der Medicin, in der Philosophie, die durch die formale Logik jeden wirklichen Gedanken erstickte, ja selbst in der Dichtkunst, die sich allmülig von der Tabulatur der Meistersänger zu den Regeln von Boileau und Batteux er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/174>, abgerufen am 22.05.2024.