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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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rend ihre Apostel durch Reisen und kirchenhistorische, dogmatische und mora¬
lische Schriften eine große Anzahl von Schülern ausbildeten, die ihrerseits
wieder durch Wort und Schrift in allen Theilen des Reichs, vorzüglich aber
in Petersburg und Moskau der Sekte zahlreiche Anhänger zuführten.

Die Lehrgemeinschast der wygischen Siedeleien besteht noch jetzt. Ihre
Lehre stimmt mit den Hauptsätzen derjenigen der andern popenlosen Sekten
überein. Ihr eigenthümlich ist, daß sie die Wiederkunft Christi für nahe be¬
vorstehend hält, daß dieselbe schon wiederholt bis auf die Stunde verkündigt
wurde, weshalb man sich Gräber grub, sich in Särge legte und dort auf die
Posaune wartete. Ferner, daß sie die Convertiten noch einmal tauft, daß sie
Taufen und andere priesterliche Handlungen auch von Frauen verrichten läßt,
daß sie die Ehe verwirft und unbedingte Enthaltsamkeit fordert -- eine Re¬
gel, die indeß bald zur Ausnahme wurde. -- daß sie die Mönche der Staats¬
kirche, die zu ihr übertreten, als Mönche anerkennt und vorzugsweise zu Leh¬
rern wählt, daß sie für den Beherrscher Rußlands zwar betet, ihn aber nicht
"Imperator", sondern "Czar" nennt, daß sie die auf dem Markt erkauften
Lebensmittel nicht für unrein hält, endlich daß sie ihren Anhängern gebietet
zu jeder Stunde zur Selbstverbrennung für den Glauben bereit zu sein.

Eine andere, sehr verbreitete Raskolniken-Secte sind die von dem Mönch
Barlaam gegründeten Gemeinden der Theod osiancr, die Anfangs besonders
in Polen und den baltischen Gouvernements sich ausbreiteten und später in
der Gemeinde des preobraschenstischen Friedhofs in Moskau einen Mittelpunkt
fanden. Diese Sekte zählte zu Anfang dieses Jahrhunderts allein in der
ebengenannten Stadt an 10,000 Mitglieder, die zum Theil durch die großen
Reichthümer des Friedhofes und die Lcbensannehmlichkeitcn, die er den An¬
hängern des Raskol bot, angelockt waren. Früher kamen auch unter diesen
Altgläubigen häufige Selbstmorde vor, und viele ließen sich für den Glau¬
ben verbrennen oder lebendig begraben. Jetzt geschieht dies, soviel man weiß,
nicht mehr. Dagegen hält man hartnäckig an andern alten Lehren und Sit¬
ten fest. Die ans dem Markt gekaufte Speise gilt als unrein; hundert Ver¬
beugungen machen, daß die göttliche Gnade auf sie herabsteigt und sie reinigt;
damit diese freien Zugang habe, werden in den Oefen besondre Oeffnungen
angebracht und die Gefäße, in denen man die Speisen aufträgt, nie geschlossen.
Nur die von den Malern der Sekte angefertigten Heiligenbilder sind der
Verehrung würdig, keine andere, auch nicht die unter Glas gebrachten; Mönche,
die sich bekehren, gelten nur als Weltgeistliche. Der Besuch öffentlicher Bäder
wird als Frevel mit harter Kirchenbuße bestraft. Die Aufschrift der Kreuze
muß (wie auch bei den Pomoränje) lauten: "Der König der Ehren Issus
Chr. der Sohn Gottes." nicht "I. N. Z. I." (Jissus von Nazareth. Zar
der Juden), welches letztere eine lateinische, von nitor eingeführte Ketzerei ist.


Greiizboten III. 1860. 27

rend ihre Apostel durch Reisen und kirchenhistorische, dogmatische und mora¬
lische Schriften eine große Anzahl von Schülern ausbildeten, die ihrerseits
wieder durch Wort und Schrift in allen Theilen des Reichs, vorzüglich aber
in Petersburg und Moskau der Sekte zahlreiche Anhänger zuführten.

Die Lehrgemeinschast der wygischen Siedeleien besteht noch jetzt. Ihre
Lehre stimmt mit den Hauptsätzen derjenigen der andern popenlosen Sekten
überein. Ihr eigenthümlich ist, daß sie die Wiederkunft Christi für nahe be¬
vorstehend hält, daß dieselbe schon wiederholt bis auf die Stunde verkündigt
wurde, weshalb man sich Gräber grub, sich in Särge legte und dort auf die
Posaune wartete. Ferner, daß sie die Convertiten noch einmal tauft, daß sie
Taufen und andere priesterliche Handlungen auch von Frauen verrichten läßt,
daß sie die Ehe verwirft und unbedingte Enthaltsamkeit fordert — eine Re¬
gel, die indeß bald zur Ausnahme wurde. — daß sie die Mönche der Staats¬
kirche, die zu ihr übertreten, als Mönche anerkennt und vorzugsweise zu Leh¬
rern wählt, daß sie für den Beherrscher Rußlands zwar betet, ihn aber nicht
„Imperator", sondern „Czar" nennt, daß sie die auf dem Markt erkauften
Lebensmittel nicht für unrein hält, endlich daß sie ihren Anhängern gebietet
zu jeder Stunde zur Selbstverbrennung für den Glauben bereit zu sein.

Eine andere, sehr verbreitete Raskolniken-Secte sind die von dem Mönch
Barlaam gegründeten Gemeinden der Theod osiancr, die Anfangs besonders
in Polen und den baltischen Gouvernements sich ausbreiteten und später in
der Gemeinde des preobraschenstischen Friedhofs in Moskau einen Mittelpunkt
fanden. Diese Sekte zählte zu Anfang dieses Jahrhunderts allein in der
ebengenannten Stadt an 10,000 Mitglieder, die zum Theil durch die großen
Reichthümer des Friedhofes und die Lcbensannehmlichkeitcn, die er den An¬
hängern des Raskol bot, angelockt waren. Früher kamen auch unter diesen
Altgläubigen häufige Selbstmorde vor, und viele ließen sich für den Glau¬
ben verbrennen oder lebendig begraben. Jetzt geschieht dies, soviel man weiß,
nicht mehr. Dagegen hält man hartnäckig an andern alten Lehren und Sit¬
ten fest. Die ans dem Markt gekaufte Speise gilt als unrein; hundert Ver¬
beugungen machen, daß die göttliche Gnade auf sie herabsteigt und sie reinigt;
damit diese freien Zugang habe, werden in den Oefen besondre Oeffnungen
angebracht und die Gefäße, in denen man die Speisen aufträgt, nie geschlossen.
Nur die von den Malern der Sekte angefertigten Heiligenbilder sind der
Verehrung würdig, keine andere, auch nicht die unter Glas gebrachten; Mönche,
die sich bekehren, gelten nur als Weltgeistliche. Der Besuch öffentlicher Bäder
wird als Frevel mit harter Kirchenbuße bestraft. Die Aufschrift der Kreuze
muß (wie auch bei den Pomoränje) lauten: „Der König der Ehren Issus
Chr. der Sohn Gottes." nicht „I. N. Z. I." (Jissus von Nazareth. Zar
der Juden), welches letztere eine lateinische, von nitor eingeführte Ketzerei ist.


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[0221] rend ihre Apostel durch Reisen und kirchenhistorische, dogmatische und mora¬ lische Schriften eine große Anzahl von Schülern ausbildeten, die ihrerseits wieder durch Wort und Schrift in allen Theilen des Reichs, vorzüglich aber in Petersburg und Moskau der Sekte zahlreiche Anhänger zuführten. Die Lehrgemeinschast der wygischen Siedeleien besteht noch jetzt. Ihre Lehre stimmt mit den Hauptsätzen derjenigen der andern popenlosen Sekten überein. Ihr eigenthümlich ist, daß sie die Wiederkunft Christi für nahe be¬ vorstehend hält, daß dieselbe schon wiederholt bis auf die Stunde verkündigt wurde, weshalb man sich Gräber grub, sich in Särge legte und dort auf die Posaune wartete. Ferner, daß sie die Convertiten noch einmal tauft, daß sie Taufen und andere priesterliche Handlungen auch von Frauen verrichten läßt, daß sie die Ehe verwirft und unbedingte Enthaltsamkeit fordert — eine Re¬ gel, die indeß bald zur Ausnahme wurde. — daß sie die Mönche der Staats¬ kirche, die zu ihr übertreten, als Mönche anerkennt und vorzugsweise zu Leh¬ rern wählt, daß sie für den Beherrscher Rußlands zwar betet, ihn aber nicht „Imperator", sondern „Czar" nennt, daß sie die auf dem Markt erkauften Lebensmittel nicht für unrein hält, endlich daß sie ihren Anhängern gebietet zu jeder Stunde zur Selbstverbrennung für den Glauben bereit zu sein. Eine andere, sehr verbreitete Raskolniken-Secte sind die von dem Mönch Barlaam gegründeten Gemeinden der Theod osiancr, die Anfangs besonders in Polen und den baltischen Gouvernements sich ausbreiteten und später in der Gemeinde des preobraschenstischen Friedhofs in Moskau einen Mittelpunkt fanden. Diese Sekte zählte zu Anfang dieses Jahrhunderts allein in der ebengenannten Stadt an 10,000 Mitglieder, die zum Theil durch die großen Reichthümer des Friedhofes und die Lcbensannehmlichkeitcn, die er den An¬ hängern des Raskol bot, angelockt waren. Früher kamen auch unter diesen Altgläubigen häufige Selbstmorde vor, und viele ließen sich für den Glau¬ ben verbrennen oder lebendig begraben. Jetzt geschieht dies, soviel man weiß, nicht mehr. Dagegen hält man hartnäckig an andern alten Lehren und Sit¬ ten fest. Die ans dem Markt gekaufte Speise gilt als unrein; hundert Ver¬ beugungen machen, daß die göttliche Gnade auf sie herabsteigt und sie reinigt; damit diese freien Zugang habe, werden in den Oefen besondre Oeffnungen angebracht und die Gefäße, in denen man die Speisen aufträgt, nie geschlossen. Nur die von den Malern der Sekte angefertigten Heiligenbilder sind der Verehrung würdig, keine andere, auch nicht die unter Glas gebrachten; Mönche, die sich bekehren, gelten nur als Weltgeistliche. Der Besuch öffentlicher Bäder wird als Frevel mit harter Kirchenbuße bestraft. Die Aufschrift der Kreuze muß (wie auch bei den Pomoränje) lauten: „Der König der Ehren Issus Chr. der Sohn Gottes." nicht „I. N. Z. I." (Jissus von Nazareth. Zar der Juden), welches letztere eine lateinische, von nitor eingeführte Ketzerei ist. Greiizboten III. 1860. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/221>, abgerufen am 15.06.2024.