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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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vielleicht ersterer mehr als letzteren, nützlich sein würde? Würde es, ganz zu
geschweige" der heiligen und nicht hinmegzudccrctircnden Rechte des menschlichen
Gewissens, nicht von höchster politischer Geschicklichkeit zeigen, wenn man mehre
Millionen russischer Unterthanen dem Einfluß eines Prälaten entzöge, welcher
im Lande unsres natürlichsten Feindes, Oestreichs, residirt, wenn man durch
öffentliche Anerkennung des Cultus der Altgläubigen, durch Behandlung der¬
selben aus gleichem Fuße mit den übrigen christlichen Seelen einer Propaganda
ein Ziel setzte, welche nur aus Grund des Geheimnisses existirt, in das sie sich
hüllt? Es hieße dies mehre Millionen innerer Feinde, die ebenso erbittert als
gefährlich sind, in friedliche und ruhige Bürger verwandeln. Das beste Mittel
die Zahl 5er Altgläubigen zu vermindern, sie selbst, wie wir hoffen, mit
der Zeit vollständig aussterben zu lassen, wäre, ihnen Preßfreiheit zu gestatten.
(Ein vollständiges Aufhören der Sektirerei wird zu bezweifeln sein -- man
denke an England und Amerika, wo das Sektenwcsen mehr als irgendwo
anders blüht. D. Red.) Dann würde sich zwischen ihnen und der ortho¬
doxen Geistlichkeit ein lebhafter Kampf in Zeitschriften und Büchern erheben.
Da der Grund des Daseins dieser Sekten in der Verfolgung, deren Folge ist,
daß irrende Menschen in Opfer verwandelt und zu der Würde von Märtyrern
erhoben werden, in der Geheimnißkrämerei, zu der sie verdammt sind, und in
der unangcmefsnen Lage, in welche sie die Regierung gebracht hat, liegt, so
würden ihre Irrthümer, wie die Mehrzahl der menschlichen Irrthümer, das
Tageslicht der Oeffentlichkeit nicht ertragen.

Wenn die russische Negierung fortführt, auf dem verhängnißvollen Wege
zu gehn, von dem sie weder den Muth noch das Geschick hat, sich zu entfernen
-- weiß sie wol, was dann geschehn wird? Bei dem ersten Kriege würden,
wofern der Feind, gleichviel welcher, den russischen Boden betretend die Ge¬
wissensfreiheit für jedermann ohne Rückhalt und Einschränkung verkündigte,
die Altgläubigen, welche den siebenten Theil der Bevölkerung des Reichs aus¬
machen, sich diesem Feinde anschließen. Man sollte nicht vergessen, daß die
Aufstände Stenko Rasins im siebzehnten und Pugatschews im achtzehnten Jahr¬
hundert, welche einen so großen Theil des Landes umfaßten und bereu man
nur mit Mühe Meister wurde, unter den Sekten eine energische Unterstützung
fanden." --

Wir haben die schwachen Seiten Ruß-lands vor uns aufdecken sehen und
erfahren, daß der Riese, der uns bedroht, mehr als eine Achillesferse für einen
solchen Gegner hat, der ihn mit ähnlichen Waffen angreifen wollte, wie die
waren, welche im vorigen Jahre Oestreich besiegen halfen. Es leidet keinen
Zweifel. daß Rußland durch einen Feind, der eine Proclamation vor sich her¬
gehn ließe, welche die Befreiung der Leibeignen und die Gleichstellung aller
Sekten mit der Staatskirche verhieße, beträchtlich gehindert werden würde.


vielleicht ersterer mehr als letzteren, nützlich sein würde? Würde es, ganz zu
geschweige» der heiligen und nicht hinmegzudccrctircnden Rechte des menschlichen
Gewissens, nicht von höchster politischer Geschicklichkeit zeigen, wenn man mehre
Millionen russischer Unterthanen dem Einfluß eines Prälaten entzöge, welcher
im Lande unsres natürlichsten Feindes, Oestreichs, residirt, wenn man durch
öffentliche Anerkennung des Cultus der Altgläubigen, durch Behandlung der¬
selben aus gleichem Fuße mit den übrigen christlichen Seelen einer Propaganda
ein Ziel setzte, welche nur aus Grund des Geheimnisses existirt, in das sie sich
hüllt? Es hieße dies mehre Millionen innerer Feinde, die ebenso erbittert als
gefährlich sind, in friedliche und ruhige Bürger verwandeln. Das beste Mittel
die Zahl 5er Altgläubigen zu vermindern, sie selbst, wie wir hoffen, mit
der Zeit vollständig aussterben zu lassen, wäre, ihnen Preßfreiheit zu gestatten.
(Ein vollständiges Aufhören der Sektirerei wird zu bezweifeln sein — man
denke an England und Amerika, wo das Sektenwcsen mehr als irgendwo
anders blüht. D. Red.) Dann würde sich zwischen ihnen und der ortho¬
doxen Geistlichkeit ein lebhafter Kampf in Zeitschriften und Büchern erheben.
Da der Grund des Daseins dieser Sekten in der Verfolgung, deren Folge ist,
daß irrende Menschen in Opfer verwandelt und zu der Würde von Märtyrern
erhoben werden, in der Geheimnißkrämerei, zu der sie verdammt sind, und in
der unangcmefsnen Lage, in welche sie die Regierung gebracht hat, liegt, so
würden ihre Irrthümer, wie die Mehrzahl der menschlichen Irrthümer, das
Tageslicht der Oeffentlichkeit nicht ertragen.

Wenn die russische Negierung fortführt, auf dem verhängnißvollen Wege
zu gehn, von dem sie weder den Muth noch das Geschick hat, sich zu entfernen
— weiß sie wol, was dann geschehn wird? Bei dem ersten Kriege würden,
wofern der Feind, gleichviel welcher, den russischen Boden betretend die Ge¬
wissensfreiheit für jedermann ohne Rückhalt und Einschränkung verkündigte,
die Altgläubigen, welche den siebenten Theil der Bevölkerung des Reichs aus¬
machen, sich diesem Feinde anschließen. Man sollte nicht vergessen, daß die
Aufstände Stenko Rasins im siebzehnten und Pugatschews im achtzehnten Jahr¬
hundert, welche einen so großen Theil des Landes umfaßten und bereu man
nur mit Mühe Meister wurde, unter den Sekten eine energische Unterstützung
fanden." —

Wir haben die schwachen Seiten Ruß-lands vor uns aufdecken sehen und
erfahren, daß der Riese, der uns bedroht, mehr als eine Achillesferse für einen
solchen Gegner hat, der ihn mit ähnlichen Waffen angreifen wollte, wie die
waren, welche im vorigen Jahre Oestreich besiegen halfen. Es leidet keinen
Zweifel. daß Rußland durch einen Feind, der eine Proclamation vor sich her¬
gehn ließe, welche die Befreiung der Leibeignen und die Gleichstellung aller
Sekten mit der Staatskirche verhieße, beträchtlich gehindert werden würde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/228>, abgerufen am 21.05.2024.