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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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zuschieben, so glauben wir doch, daß diese Version der Wahrheit naher kommt
als die drei andern.

Fassen wir zunächst die italienische Frage ins Auge, so finden wir, daß
die Whigs in derselben eine durchaus zusammenhängende, consequente Politik
befolgt haben. Nur muh man nicht nach den Worten, sondern nach den
Thaten urtheilen; denn daß Lord Palmerston oder Lord Russell die Leidenschaft
hätten, überall die Wahrheit zu sagen -- von einer so schwärmerischen An¬
sicht sind wir weit entfernt.

Wahrend des Krieges hat England alles gethan, was in seinen Kräften
stand, Oestreich zu isoliren, und es ist ihm gelungen. Als es nicht länger
möglich war, als Preußen bereit stand, den Krieg gegen Frankreich zu über¬
nehmen, wurde der Friede von Villafranca durch einen Papierfetzen beschleu¬
nigt, der von Downing - Street ausging. Nach dem Frieden hat England
allen seinen moralischen Einfluß aufgeboten, daß die snrdinischen Annexionen
zu Stande kamen. Es war dies Streben offen gegen Oestreich, indirect aber
auch gegen Frankreich gerichtet. Es würe Frankreich lieber gewesen, wenn
Toscana el" Staat für sich geblieben wäre. Freilich wußte das englische
Cabinet im Voraus, daß Frankreichs Einwilligung in letzter Instanz nur durch
die Abtretung von Savoyen und Nizza werde erkauft werden. England hätte
das gern vermieden, aber es war entschlossen, im äußersten Fall^ diesen Preis
zu zahlen. Das Mißtrauen des englischen Volks beschwichtigte man theils
durch einige Redensarten, theils durch den Handelsvertrag. Kaum waren die
Annexionen fertig, so ging das englische Cabinet gegen Neapel in einer Weise
vor, die sich nur wenig von einem offenen Aufruf der Neapolitaner zum Auf¬
stand unterschied. Auch noch in diesem Augenblick, wo die neapolitanische Re¬
gierung in der äußersten Verzweiflung alles mögliche bietet, um nur das Fest¬
land zu behalte", weist Lord Russel mit einer Ostentation, die gewiß ihren
Zweck hat. jede directe oder indirecte Einmischung zurück.

Wer in allen diesen Dingen keinen Zusammenhang fleht, für den gibt es
in der Geschichte überhaupt keinen Zusammenhang. Es ist der unverkennbare
Wunsch der britischen Regierung, entweder ganz Italien oder wenigstens so
viel davon als möglich unter der Herrschaft des König Victor Emanuel zu
vereinigen, ein mächtiges und dauerhaftes Königreich Italien zu schaffen. Eng¬
land ist zwar nicht gesonnen diesem Wunsch große Opfer zu bringen, etwa
einen Krieg deshalb zu führen, am allerwenigsten gegen Frankreich, aber es
ist bereit, ihn durch alle Künste der Diplomatie zu unterstützen.

Man wird schwerlich behaupten können, daß dieser Wunsch den Interessen
Englands entgegengesetzt sei. Eine der schwersten Drohungen für England ist
die alte Behauptung, das mittelländische Meer solle ein französischer See wer¬
den. Gegen dieses Vorschreiten Frankreichs bedarf England eines mächtige"


zuschieben, so glauben wir doch, daß diese Version der Wahrheit naher kommt
als die drei andern.

Fassen wir zunächst die italienische Frage ins Auge, so finden wir, daß
die Whigs in derselben eine durchaus zusammenhängende, consequente Politik
befolgt haben. Nur muh man nicht nach den Worten, sondern nach den
Thaten urtheilen; denn daß Lord Palmerston oder Lord Russell die Leidenschaft
hätten, überall die Wahrheit zu sagen — von einer so schwärmerischen An¬
sicht sind wir weit entfernt.

Wahrend des Krieges hat England alles gethan, was in seinen Kräften
stand, Oestreich zu isoliren, und es ist ihm gelungen. Als es nicht länger
möglich war, als Preußen bereit stand, den Krieg gegen Frankreich zu über¬
nehmen, wurde der Friede von Villafranca durch einen Papierfetzen beschleu¬
nigt, der von Downing - Street ausging. Nach dem Frieden hat England
allen seinen moralischen Einfluß aufgeboten, daß die snrdinischen Annexionen
zu Stande kamen. Es war dies Streben offen gegen Oestreich, indirect aber
auch gegen Frankreich gerichtet. Es würe Frankreich lieber gewesen, wenn
Toscana el» Staat für sich geblieben wäre. Freilich wußte das englische
Cabinet im Voraus, daß Frankreichs Einwilligung in letzter Instanz nur durch
die Abtretung von Savoyen und Nizza werde erkauft werden. England hätte
das gern vermieden, aber es war entschlossen, im äußersten Fall^ diesen Preis
zu zahlen. Das Mißtrauen des englischen Volks beschwichtigte man theils
durch einige Redensarten, theils durch den Handelsvertrag. Kaum waren die
Annexionen fertig, so ging das englische Cabinet gegen Neapel in einer Weise
vor, die sich nur wenig von einem offenen Aufruf der Neapolitaner zum Auf¬
stand unterschied. Auch noch in diesem Augenblick, wo die neapolitanische Re¬
gierung in der äußersten Verzweiflung alles mögliche bietet, um nur das Fest¬
land zu behalte», weist Lord Russel mit einer Ostentation, die gewiß ihren
Zweck hat. jede directe oder indirecte Einmischung zurück.

Wer in allen diesen Dingen keinen Zusammenhang fleht, für den gibt es
in der Geschichte überhaupt keinen Zusammenhang. Es ist der unverkennbare
Wunsch der britischen Regierung, entweder ganz Italien oder wenigstens so
viel davon als möglich unter der Herrschaft des König Victor Emanuel zu
vereinigen, ein mächtiges und dauerhaftes Königreich Italien zu schaffen. Eng¬
land ist zwar nicht gesonnen diesem Wunsch große Opfer zu bringen, etwa
einen Krieg deshalb zu führen, am allerwenigsten gegen Frankreich, aber es
ist bereit, ihn durch alle Künste der Diplomatie zu unterstützen.

Man wird schwerlich behaupten können, daß dieser Wunsch den Interessen
Englands entgegengesetzt sei. Eine der schwersten Drohungen für England ist
die alte Behauptung, das mittelländische Meer solle ein französischer See wer¬
den. Gegen dieses Vorschreiten Frankreichs bedarf England eines mächtige»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/246>, abgerufen am 14.06.2024.