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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Stimmung: die Seele wäscht sich in Jesu Wunden rein, und mit dieser con-
ventionellen Verklärung ist alles gut. -- Aber diese Poeten glauben auch nicht
an das Leben; Günther glaubte daran, und sprach daher aufrichtig, wenn auch
nicht ganz orthodox. -- Er starb den 15. März 1723. Noch in demselben
Jahr erschien der erste Band seiner gesammelten Gedichte; die folgenden 3 Bände
1724--1735. Ein gewisser Steinbach, Verfasser eines Wörterbuchs und leiden¬
schaftlicher Feind Gottscheds, gab 1738 eine Biographie des Dichters heraus;
vielleicht ist dies der Grund, das; Günther in Gottscheds "Beiträgen zur kri¬
tischen Historie" von Schwabe ziemlich nachtheilig besprochen wurde. -- Um
seinen poetischen Werth richtig zu schätzen, muh man ihn neben die einzigen
Dichter jener Zeit stellen, von denen die Rede sein kann -- Blockes und Haller.
--- An Fülle und Innigkeit der Empfindung ist er ihnen unendlich überlegen --
man stelle nur seine Liebesgedichte neben Hallers "Doris" und "Marianne",
beiläufig den einzigen Liedern jener Zeit, die einen Vergleich mit den seinigen
aushalten. Ebenso in Melodie und Tonfall. Brockes ist zwar reicher an
Erfindung, aber seine Melodien sind erst mit dem Finger geklopft, zu be-
stürmten Zwecken erfunden. -- Haller hat in den mehr didaktischen Gedichten
den großen Vorzug ernsten Denkens und sorgfältiger Ausarbeitung der Sprache;
bei Günther ist alles Improvisation, und die Verse laufen mitunter in pro¬
saischer Geschwätzigkeit. Auch Brockes ist feiner in den Ausdrücken; aber er
ist in der Anschauung wie in dem leitenden Zug seiner Gedanken und Betrach¬
tungen eine ganz prosaische Natur -- nur ein Paar Stellen in seinem "irdischen
Vergnügen", nnmeiulich der Anfang, können den Leser darin irre machen: aber
das sind durchweg Nachbildungen. -- Man hat Günther getadelt, daß er seine
poetischen Muster so schlecht wählte, und daß sein Geschmack so wenig aus¬
gebildet war. Den Fehler theilt er mit allen seinen Zeitgenossen, nicht blos
mit Neukirch, sondern auch mit Brockes und Haller. Sie alle dichteten zuerst in
der Lohensteinischen Manier und suchten dann, als die Stimmung sich änderte,
einen natürlichern Ton: glücklich genug, wenn sie nicht in das entgegengesetzte
Extrem von Christian Weise, Canitz u. s. w. verfielen. Davor bewahrte Gün¬
ther seine tiefere Natur.

Ein Fortschritt ist in seiner Entwicklung unverkennbar; ob dieser bei
längerem und glücklicheren Leben weiter hätte führen können, ist schwer zu
sagen, da seine beiden Grundfehler -- die zu leichte Arbeit und der Mangel an
I. S. Anschauung ins Große -- nicht leicht zu beseitigen waren.




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Stimmung: die Seele wäscht sich in Jesu Wunden rein, und mit dieser con-
ventionellen Verklärung ist alles gut. — Aber diese Poeten glauben auch nicht
an das Leben; Günther glaubte daran, und sprach daher aufrichtig, wenn auch
nicht ganz orthodox. — Er starb den 15. März 1723. Noch in demselben
Jahr erschien der erste Band seiner gesammelten Gedichte; die folgenden 3 Bände
1724—1735. Ein gewisser Steinbach, Verfasser eines Wörterbuchs und leiden¬
schaftlicher Feind Gottscheds, gab 1738 eine Biographie des Dichters heraus;
vielleicht ist dies der Grund, das; Günther in Gottscheds „Beiträgen zur kri¬
tischen Historie" von Schwabe ziemlich nachtheilig besprochen wurde. — Um
seinen poetischen Werth richtig zu schätzen, muh man ihn neben die einzigen
Dichter jener Zeit stellen, von denen die Rede sein kann — Blockes und Haller.
-— An Fülle und Innigkeit der Empfindung ist er ihnen unendlich überlegen —
man stelle nur seine Liebesgedichte neben Hallers „Doris" und „Marianne",
beiläufig den einzigen Liedern jener Zeit, die einen Vergleich mit den seinigen
aushalten. Ebenso in Melodie und Tonfall. Brockes ist zwar reicher an
Erfindung, aber seine Melodien sind erst mit dem Finger geklopft, zu be-
stürmten Zwecken erfunden. — Haller hat in den mehr didaktischen Gedichten
den großen Vorzug ernsten Denkens und sorgfältiger Ausarbeitung der Sprache;
bei Günther ist alles Improvisation, und die Verse laufen mitunter in pro¬
saischer Geschwätzigkeit. Auch Brockes ist feiner in den Ausdrücken; aber er
ist in der Anschauung wie in dem leitenden Zug seiner Gedanken und Betrach¬
tungen eine ganz prosaische Natur — nur ein Paar Stellen in seinem „irdischen
Vergnügen", nnmeiulich der Anfang, können den Leser darin irre machen: aber
das sind durchweg Nachbildungen. — Man hat Günther getadelt, daß er seine
poetischen Muster so schlecht wählte, und daß sein Geschmack so wenig aus¬
gebildet war. Den Fehler theilt er mit allen seinen Zeitgenossen, nicht blos
mit Neukirch, sondern auch mit Brockes und Haller. Sie alle dichteten zuerst in
der Lohensteinischen Manier und suchten dann, als die Stimmung sich änderte,
einen natürlichern Ton: glücklich genug, wenn sie nicht in das entgegengesetzte
Extrem von Christian Weise, Canitz u. s. w. verfielen. Davor bewahrte Gün¬
ther seine tiefere Natur.

Ein Fortschritt ist in seiner Entwicklung unverkennbar; ob dieser bei
längerem und glücklicheren Leben weiter hätte führen können, ist schwer zu
sagen, da seine beiden Grundfehler — die zu leichte Arbeit und der Mangel an
I. S. Anschauung ins Große — nicht leicht zu beseitigen waren.




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[0311] Stimmung: die Seele wäscht sich in Jesu Wunden rein, und mit dieser con- ventionellen Verklärung ist alles gut. — Aber diese Poeten glauben auch nicht an das Leben; Günther glaubte daran, und sprach daher aufrichtig, wenn auch nicht ganz orthodox. — Er starb den 15. März 1723. Noch in demselben Jahr erschien der erste Band seiner gesammelten Gedichte; die folgenden 3 Bände 1724—1735. Ein gewisser Steinbach, Verfasser eines Wörterbuchs und leiden¬ schaftlicher Feind Gottscheds, gab 1738 eine Biographie des Dichters heraus; vielleicht ist dies der Grund, das; Günther in Gottscheds „Beiträgen zur kri¬ tischen Historie" von Schwabe ziemlich nachtheilig besprochen wurde. — Um seinen poetischen Werth richtig zu schätzen, muh man ihn neben die einzigen Dichter jener Zeit stellen, von denen die Rede sein kann — Blockes und Haller. -— An Fülle und Innigkeit der Empfindung ist er ihnen unendlich überlegen — man stelle nur seine Liebesgedichte neben Hallers „Doris" und „Marianne", beiläufig den einzigen Liedern jener Zeit, die einen Vergleich mit den seinigen aushalten. Ebenso in Melodie und Tonfall. Brockes ist zwar reicher an Erfindung, aber seine Melodien sind erst mit dem Finger geklopft, zu be- stürmten Zwecken erfunden. — Haller hat in den mehr didaktischen Gedichten den großen Vorzug ernsten Denkens und sorgfältiger Ausarbeitung der Sprache; bei Günther ist alles Improvisation, und die Verse laufen mitunter in pro¬ saischer Geschwätzigkeit. Auch Brockes ist feiner in den Ausdrücken; aber er ist in der Anschauung wie in dem leitenden Zug seiner Gedanken und Betrach¬ tungen eine ganz prosaische Natur — nur ein Paar Stellen in seinem „irdischen Vergnügen", nnmeiulich der Anfang, können den Leser darin irre machen: aber das sind durchweg Nachbildungen. — Man hat Günther getadelt, daß er seine poetischen Muster so schlecht wählte, und daß sein Geschmack so wenig aus¬ gebildet war. Den Fehler theilt er mit allen seinen Zeitgenossen, nicht blos mit Neukirch, sondern auch mit Brockes und Haller. Sie alle dichteten zuerst in der Lohensteinischen Manier und suchten dann, als die Stimmung sich änderte, einen natürlichern Ton: glücklich genug, wenn sie nicht in das entgegengesetzte Extrem von Christian Weise, Canitz u. s. w. verfielen. Davor bewahrte Gün¬ ther seine tiefere Natur. Ein Fortschritt ist in seiner Entwicklung unverkennbar; ob dieser bei längerem und glücklicheren Leben weiter hätte führen können, ist schwer zu sagen, da seine beiden Grundfehler — die zu leichte Arbeit und der Mangel an I. S. Anschauung ins Große — nicht leicht zu beseitigen waren. 38*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/311>, abgerufen am 21.05.2024.