Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Liebe, der Barmherzigkeit hervorgerufen, denen die Menschheit ihre schön¬
sten Blüten verdankt. -- Bei diesen Zeugnissen des Lebens, warum suchen
wir unter den Gräbern?

"Ich lobe mir, was über der Erde.steht, und nicht was unter der Erde
verborgen liegt! Vergib es mir lieber Baumeister, daß ich von diesem weiter
nichts wissen mag. als daß es gut und fest sein muß. Denn es trägt und
trügt so lange . . . An der Schönheit des Tempels über der Erde will ich
meine Betrachtungen weiden, in dieser will ich dich preisen, lieber Baumeister!
Preisen; auch wenn es möglich wäre, daß die ganze schöne Masse gar keinen
Grund hätte, oder doch nur auf Seifenblasen ruhte."

Diese Bemerkungen sind auch in praktischer Beziehung nicht überflüssig.
Strauß fordert die Gebildeten auf, offen ihre Ueberzeugung auszusprechen,
auch wenn sie darüber den Namen Christen aufgeben sollten. Wir wollen
offen die Wahrheit sagen und wir wollen doch Christen bleiben. Wir sind
alle mit einander viel zu höflich gegen die modernen Flacius und Goeze ge¬
wesen, die Jedem das Christenthum absprachen, der nicht ihren Katechismus
unterschrieb. Es ist Zeit, daß diese übertriebene Höflichkeit, deren sich bekannt¬
lich auch Goethe schuldig gemacht, ein Ende nehme. Wer im Stande ist, die
Wunder des historischen Christus und seine Thaten für die Erlösung des
Menschengeschlechts lebendig nachzufühlen, wer die Schwingen des gleichen
Geistes in seinem Innern empfindet, wer erkennt, ein Glied des großen Gan¬
zen zu sein, das aus diesen Thaten und Wundern hervorgegangen ist -- darf
der sich nicht einen Christen nennen? auch wenn das, was er unter "Wunder"
versteht, etwas ganz Anderes ist. als was sich die Bildungssphäre eines Goeze
darunter denkt. Das Christenthum soll nicht blos fortgebildet werden, es ist
bereits seit nahe an 2000 Jahren fortwährend fortgebildet. Nur folgt die
Fortbildung den Bedürfnissen der Zeit, sie besteht nicht immer in der Erfin¬
dung neuer Dogmen; sie strebt vielmehr, den Tempel über der Erde unauf-
hörlich so zu befestigen, daß ohne Schaden ein Stück des Gerüstes nach dem
andern weggenommen werden kann.

Ohne Schaden! Denn die Kirche hat eine große und heilige Mission
erfüllt und erfüllt sie zum Theil noch jetzt. Kirche und Orthodoxismus fällt
nicht zusammen. Die Kirche, das Symbol unserer geistigen Gemeinschaft,
darf unter den Streichen nicht leiden, die den Orthodoxismus treffen. Die
Streiche aber, welche der letztere am meisten zu fürchten hat. sind nicht etwa
Widerlegungen: jeder Widerlegung setzt er in letzter Instanz das ersäo quis.
absurolum entgegen und ist auf diesem Boden unüberwindlich. Das Gefähr¬
lichste für ihn ist, wenn man ihn ganz und gar ignorirt, und durch positive
Schöpfungen mehr und mehr einengt. In der Blütenzeit unserer Kunst
war er sehr bescheiden; er wurde überlaut, als in Kunst, Wissenschaft und


der Liebe, der Barmherzigkeit hervorgerufen, denen die Menschheit ihre schön¬
sten Blüten verdankt. — Bei diesen Zeugnissen des Lebens, warum suchen
wir unter den Gräbern?

„Ich lobe mir, was über der Erde.steht, und nicht was unter der Erde
verborgen liegt! Vergib es mir lieber Baumeister, daß ich von diesem weiter
nichts wissen mag. als daß es gut und fest sein muß. Denn es trägt und
trügt so lange . . . An der Schönheit des Tempels über der Erde will ich
meine Betrachtungen weiden, in dieser will ich dich preisen, lieber Baumeister!
Preisen; auch wenn es möglich wäre, daß die ganze schöne Masse gar keinen
Grund hätte, oder doch nur auf Seifenblasen ruhte."

Diese Bemerkungen sind auch in praktischer Beziehung nicht überflüssig.
Strauß fordert die Gebildeten auf, offen ihre Ueberzeugung auszusprechen,
auch wenn sie darüber den Namen Christen aufgeben sollten. Wir wollen
offen die Wahrheit sagen und wir wollen doch Christen bleiben. Wir sind
alle mit einander viel zu höflich gegen die modernen Flacius und Goeze ge¬
wesen, die Jedem das Christenthum absprachen, der nicht ihren Katechismus
unterschrieb. Es ist Zeit, daß diese übertriebene Höflichkeit, deren sich bekannt¬
lich auch Goethe schuldig gemacht, ein Ende nehme. Wer im Stande ist, die
Wunder des historischen Christus und seine Thaten für die Erlösung des
Menschengeschlechts lebendig nachzufühlen, wer die Schwingen des gleichen
Geistes in seinem Innern empfindet, wer erkennt, ein Glied des großen Gan¬
zen zu sein, das aus diesen Thaten und Wundern hervorgegangen ist — darf
der sich nicht einen Christen nennen? auch wenn das, was er unter „Wunder"
versteht, etwas ganz Anderes ist. als was sich die Bildungssphäre eines Goeze
darunter denkt. Das Christenthum soll nicht blos fortgebildet werden, es ist
bereits seit nahe an 2000 Jahren fortwährend fortgebildet. Nur folgt die
Fortbildung den Bedürfnissen der Zeit, sie besteht nicht immer in der Erfin¬
dung neuer Dogmen; sie strebt vielmehr, den Tempel über der Erde unauf-
hörlich so zu befestigen, daß ohne Schaden ein Stück des Gerüstes nach dem
andern weggenommen werden kann.

Ohne Schaden! Denn die Kirche hat eine große und heilige Mission
erfüllt und erfüllt sie zum Theil noch jetzt. Kirche und Orthodoxismus fällt
nicht zusammen. Die Kirche, das Symbol unserer geistigen Gemeinschaft,
darf unter den Streichen nicht leiden, die den Orthodoxismus treffen. Die
Streiche aber, welche der letztere am meisten zu fürchten hat. sind nicht etwa
Widerlegungen: jeder Widerlegung setzt er in letzter Instanz das ersäo quis.
absurolum entgegen und ist auf diesem Boden unüberwindlich. Das Gefähr¬
lichste für ihn ist, wenn man ihn ganz und gar ignorirt, und durch positive
Schöpfungen mehr und mehr einengt. In der Blütenzeit unserer Kunst
war er sehr bescheiden; er wurde überlaut, als in Kunst, Wissenschaft und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0366" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110172"/>
          <p xml:id="ID_1075" prev="#ID_1074"> der Liebe, der Barmherzigkeit hervorgerufen, denen die Menschheit ihre schön¬<lb/>
sten Blüten verdankt. &#x2014; Bei diesen Zeugnissen des Lebens, warum suchen<lb/>
wir unter den Gräbern?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1076"> &#x201E;Ich lobe mir, was über der Erde.steht, und nicht was unter der Erde<lb/>
verborgen liegt! Vergib es mir lieber Baumeister, daß ich von diesem weiter<lb/>
nichts wissen mag. als daß es gut und fest sein muß. Denn es trägt und<lb/>
trügt so lange . . . An der Schönheit des Tempels über der Erde will ich<lb/>
meine Betrachtungen weiden, in dieser will ich dich preisen, lieber Baumeister!<lb/>
Preisen; auch wenn es möglich wäre, daß die ganze schöne Masse gar keinen<lb/>
Grund hätte, oder doch nur auf Seifenblasen ruhte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1077"> Diese Bemerkungen sind auch in praktischer Beziehung nicht überflüssig.<lb/>
Strauß fordert die Gebildeten auf, offen ihre Ueberzeugung auszusprechen,<lb/>
auch wenn sie darüber den Namen Christen aufgeben sollten. Wir wollen<lb/>
offen die Wahrheit sagen und wir wollen doch Christen bleiben. Wir sind<lb/>
alle mit einander viel zu höflich gegen die modernen Flacius und Goeze ge¬<lb/>
wesen, die Jedem das Christenthum absprachen, der nicht ihren Katechismus<lb/>
unterschrieb. Es ist Zeit, daß diese übertriebene Höflichkeit, deren sich bekannt¬<lb/>
lich auch Goethe schuldig gemacht, ein Ende nehme. Wer im Stande ist, die<lb/>
Wunder des historischen Christus und seine Thaten für die Erlösung des<lb/>
Menschengeschlechts lebendig nachzufühlen, wer die Schwingen des gleichen<lb/>
Geistes in seinem Innern empfindet, wer erkennt, ein Glied des großen Gan¬<lb/>
zen zu sein, das aus diesen Thaten und Wundern hervorgegangen ist &#x2014; darf<lb/>
der sich nicht einen Christen nennen? auch wenn das, was er unter &#x201E;Wunder"<lb/>
versteht, etwas ganz Anderes ist. als was sich die Bildungssphäre eines Goeze<lb/>
darunter denkt. Das Christenthum soll nicht blos fortgebildet werden, es ist<lb/>
bereits seit nahe an 2000 Jahren fortwährend fortgebildet. Nur folgt die<lb/>
Fortbildung den Bedürfnissen der Zeit, sie besteht nicht immer in der Erfin¬<lb/>
dung neuer Dogmen; sie strebt vielmehr, den Tempel über der Erde unauf-<lb/>
hörlich so zu befestigen, daß ohne Schaden ein Stück des Gerüstes nach dem<lb/>
andern weggenommen werden kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1078" next="#ID_1079"> Ohne Schaden! Denn die Kirche hat eine große und heilige Mission<lb/>
erfüllt und erfüllt sie zum Theil noch jetzt. Kirche und Orthodoxismus fällt<lb/>
nicht zusammen. Die Kirche, das Symbol unserer geistigen Gemeinschaft,<lb/>
darf unter den Streichen nicht leiden, die den Orthodoxismus treffen. Die<lb/>
Streiche aber, welche der letztere am meisten zu fürchten hat. sind nicht etwa<lb/>
Widerlegungen: jeder Widerlegung setzt er in letzter Instanz das ersäo quis.<lb/>
absurolum entgegen und ist auf diesem Boden unüberwindlich. Das Gefähr¬<lb/>
lichste für ihn ist, wenn man ihn ganz und gar ignorirt, und durch positive<lb/>
Schöpfungen mehr und mehr einengt. In der Blütenzeit unserer Kunst<lb/>
war er sehr bescheiden; er wurde überlaut, als in Kunst, Wissenschaft und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0366] der Liebe, der Barmherzigkeit hervorgerufen, denen die Menschheit ihre schön¬ sten Blüten verdankt. — Bei diesen Zeugnissen des Lebens, warum suchen wir unter den Gräbern? „Ich lobe mir, was über der Erde.steht, und nicht was unter der Erde verborgen liegt! Vergib es mir lieber Baumeister, daß ich von diesem weiter nichts wissen mag. als daß es gut und fest sein muß. Denn es trägt und trügt so lange . . . An der Schönheit des Tempels über der Erde will ich meine Betrachtungen weiden, in dieser will ich dich preisen, lieber Baumeister! Preisen; auch wenn es möglich wäre, daß die ganze schöne Masse gar keinen Grund hätte, oder doch nur auf Seifenblasen ruhte." Diese Bemerkungen sind auch in praktischer Beziehung nicht überflüssig. Strauß fordert die Gebildeten auf, offen ihre Ueberzeugung auszusprechen, auch wenn sie darüber den Namen Christen aufgeben sollten. Wir wollen offen die Wahrheit sagen und wir wollen doch Christen bleiben. Wir sind alle mit einander viel zu höflich gegen die modernen Flacius und Goeze ge¬ wesen, die Jedem das Christenthum absprachen, der nicht ihren Katechismus unterschrieb. Es ist Zeit, daß diese übertriebene Höflichkeit, deren sich bekannt¬ lich auch Goethe schuldig gemacht, ein Ende nehme. Wer im Stande ist, die Wunder des historischen Christus und seine Thaten für die Erlösung des Menschengeschlechts lebendig nachzufühlen, wer die Schwingen des gleichen Geistes in seinem Innern empfindet, wer erkennt, ein Glied des großen Gan¬ zen zu sein, das aus diesen Thaten und Wundern hervorgegangen ist — darf der sich nicht einen Christen nennen? auch wenn das, was er unter „Wunder" versteht, etwas ganz Anderes ist. als was sich die Bildungssphäre eines Goeze darunter denkt. Das Christenthum soll nicht blos fortgebildet werden, es ist bereits seit nahe an 2000 Jahren fortwährend fortgebildet. Nur folgt die Fortbildung den Bedürfnissen der Zeit, sie besteht nicht immer in der Erfin¬ dung neuer Dogmen; sie strebt vielmehr, den Tempel über der Erde unauf- hörlich so zu befestigen, daß ohne Schaden ein Stück des Gerüstes nach dem andern weggenommen werden kann. Ohne Schaden! Denn die Kirche hat eine große und heilige Mission erfüllt und erfüllt sie zum Theil noch jetzt. Kirche und Orthodoxismus fällt nicht zusammen. Die Kirche, das Symbol unserer geistigen Gemeinschaft, darf unter den Streichen nicht leiden, die den Orthodoxismus treffen. Die Streiche aber, welche der letztere am meisten zu fürchten hat. sind nicht etwa Widerlegungen: jeder Widerlegung setzt er in letzter Instanz das ersäo quis. absurolum entgegen und ist auf diesem Boden unüberwindlich. Das Gefähr¬ lichste für ihn ist, wenn man ihn ganz und gar ignorirt, und durch positive Schöpfungen mehr und mehr einengt. In der Blütenzeit unserer Kunst war er sehr bescheiden; er wurde überlaut, als in Kunst, Wissenschaft und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/366
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/366>, abgerufen am 21.05.2024.