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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Widerwille, mit welchem man auch die Juden betrachtete, hatte namentlich in
der Bretagne den Glauben vorherrschend gemacht, daß die Cagots jüdischer
Abkunft seien. Wieder wurde der unangenehme Geruch, den sie verbreiten soll¬
ten, und an dem auch die Juden litten, als Beweis gebraucht. Um noch
mehr Beweise zu haben, scheute man sich nicht, die widersinnigsten und un¬
vernünftigsten Gebrechen ihnen anzudichten. So versicherte man, z. B. daß
dem Körper eines jeden Cagot am Charfreitage Blut entströme; dies that zur
Genüge dar, daß sie jüdischer Abkunft waren, denn am Charfreitage hatten
die Juden Christi Blut vergossen. Was war natürlicher. als daß sie vom
Himmel in gleicher Weise gestraft wurden? Dazu kam noch, daß die Cagots
ausgezeichnete Zimmeileute waren, ein Umstand, der bei den Bretagnern als
neuer Beweis galt, denn die Juden hatten ja das Kreuz gezimmert.

Als die Auswanderung der Bretagne nach Amerika begann, da zogen
die gemißhandelten Cagots zu ganzen Schaaren nach dem fremden Lande, in
welchem sie, unbekannt, von dem Vorurtheile nicht zu leiden hatten. Doch
auch in dieser haufenweisen Auswanderung fand das Volk einen neuen Be¬
weis ihrer Abstammung von Abraham und seinem nomadischen Stamme; auch
der vierzigjährige Zug der Israeliten in der Wüste, und sogar der geplagte
ewige Jude mußten dazu dienen, das ruhe- und rastlose Wesen der Cagots,
sowie ihre Liebe zur Veränderung als von ihren Vorfahren ererbte Gewohn¬
heiten zu erklären. Es ist merkwürdig, wie sinnreich man in Auffindung im¬
mer neuer Beweise war. Die Juden, sagte man, trieben Zauberkünste
(2. Buch Mosis Kap. 7--10), die Cagots thun es ihnen hierin nach: sie ver¬
kaufen den Seeleuten mit Wind gefüllte Beutel, behexen junge Mädchen, daß
diese sich in sie verlieben, und treiben allerlei übernatürliche Künste. Allerdings
galten auch noch im vierzehnten Jahrhundert für Juden und Cagots dieselben
Verordnungen und Bestimmungen, und sogar im Namen war kein Unterschied-
Allein gegen die jüdische Abkunft der Cagots spricht einmal ihre Gesichts¬
bildung, und dann auch ihre auffallende Andacht und Gewissenhaftigkeit bei
Ausübung aller Ceremonien der katholischen Kirche.

Eine andere, gar nicht unwahrscheinliche Annahme ist die, daß sie Ab¬
kömmlinge von unglücklichen, mit Kröpfen (goltres) versehenen Individuen
sind. Da auch jetzt noch in den Pyrenäenthälern diese Krankheit ganz ungewöhn¬
lich ist. so läßt sich wol der Abscheu erklären, welchen man vor solchen mit
diesem Uebel behafteten Leuten hatte, ein Abscheu, der so groß war, daß er
sich sogar noch auf ihre Nachkommen erstreckte. Man hat versucht das Wort
goitie von Got oder Gott herzuleiten, aber wol mit Unrecht. Ihr andrer
Name aber. Crestinas, hat Aehnlichkeit mit Cretin. Dieselben Symptome von
Geistesschwache wie bei diesen zeigten sich bei den Cagots, so daß man doch


Widerwille, mit welchem man auch die Juden betrachtete, hatte namentlich in
der Bretagne den Glauben vorherrschend gemacht, daß die Cagots jüdischer
Abkunft seien. Wieder wurde der unangenehme Geruch, den sie verbreiten soll¬
ten, und an dem auch die Juden litten, als Beweis gebraucht. Um noch
mehr Beweise zu haben, scheute man sich nicht, die widersinnigsten und un¬
vernünftigsten Gebrechen ihnen anzudichten. So versicherte man, z. B. daß
dem Körper eines jeden Cagot am Charfreitage Blut entströme; dies that zur
Genüge dar, daß sie jüdischer Abkunft waren, denn am Charfreitage hatten
die Juden Christi Blut vergossen. Was war natürlicher. als daß sie vom
Himmel in gleicher Weise gestraft wurden? Dazu kam noch, daß die Cagots
ausgezeichnete Zimmeileute waren, ein Umstand, der bei den Bretagnern als
neuer Beweis galt, denn die Juden hatten ja das Kreuz gezimmert.

Als die Auswanderung der Bretagne nach Amerika begann, da zogen
die gemißhandelten Cagots zu ganzen Schaaren nach dem fremden Lande, in
welchem sie, unbekannt, von dem Vorurtheile nicht zu leiden hatten. Doch
auch in dieser haufenweisen Auswanderung fand das Volk einen neuen Be¬
weis ihrer Abstammung von Abraham und seinem nomadischen Stamme; auch
der vierzigjährige Zug der Israeliten in der Wüste, und sogar der geplagte
ewige Jude mußten dazu dienen, das ruhe- und rastlose Wesen der Cagots,
sowie ihre Liebe zur Veränderung als von ihren Vorfahren ererbte Gewohn¬
heiten zu erklären. Es ist merkwürdig, wie sinnreich man in Auffindung im¬
mer neuer Beweise war. Die Juden, sagte man, trieben Zauberkünste
(2. Buch Mosis Kap. 7—10), die Cagots thun es ihnen hierin nach: sie ver¬
kaufen den Seeleuten mit Wind gefüllte Beutel, behexen junge Mädchen, daß
diese sich in sie verlieben, und treiben allerlei übernatürliche Künste. Allerdings
galten auch noch im vierzehnten Jahrhundert für Juden und Cagots dieselben
Verordnungen und Bestimmungen, und sogar im Namen war kein Unterschied-
Allein gegen die jüdische Abkunft der Cagots spricht einmal ihre Gesichts¬
bildung, und dann auch ihre auffallende Andacht und Gewissenhaftigkeit bei
Ausübung aller Ceremonien der katholischen Kirche.

Eine andere, gar nicht unwahrscheinliche Annahme ist die, daß sie Ab¬
kömmlinge von unglücklichen, mit Kröpfen (goltres) versehenen Individuen
sind. Da auch jetzt noch in den Pyrenäenthälern diese Krankheit ganz ungewöhn¬
lich ist. so läßt sich wol der Abscheu erklären, welchen man vor solchen mit
diesem Uebel behafteten Leuten hatte, ein Abscheu, der so groß war, daß er
sich sogar noch auf ihre Nachkommen erstreckte. Man hat versucht das Wort
goitie von Got oder Gott herzuleiten, aber wol mit Unrecht. Ihr andrer
Name aber. Crestinas, hat Aehnlichkeit mit Cretin. Dieselben Symptome von
Geistesschwache wie bei diesen zeigten sich bei den Cagots, so daß man doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/440>, abgerufen am 19.05.2024.