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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Zeit, der enge und im gewohnten Gleis sich fortschleppende Gesichtskreis bäuer¬
lichen Lebens und des bloßen Kleingewerbes mehr zu Hause, als in Schwaben.

Das Obige gibt von einem bloßen einzelnen Theile aus, aber ebendamit
nur um so augenfälliger und deutlicher, ein Bild des Umschwunges, der im
Leben unserer ganzen Nation vor sich gegangen ist und der ja, ganz abgesehen
von den unmittelbar nationalen Fragen auch in der ganzen Literatur nicht weniger
fühlbar ist. Denn wie hier Philosophie und Theologie dem empirisch-realistischen
Zuge der Zeit, der exacten Geschichtsforschung und Naturwissenschaft Platz
gemacht haben, so ist ja auch in der Dichtung und in der Unterhaltungslectüre
ein gleicher Geist nicht zu verkennen, und stärker noch als in den Dorfgeschichten,
in den halb ästhetischen Schilderungen und Reflexionen aus der "Naturgeschichte
des Volks" u. tgi., spiegelt er sich in der Masse von Schriften, die aus all'
den verschiedenen Gebieten der Natur, der Erdkunde u. f. w. ihren Stoff
entnehmen. Aber auch noch von einer ganz anderen reellen Seite her, von
der ökonomischen, macht sich diese Veränderung fühlbar. Denn mit der uni¬
versellen Gestaltung des Verkehrs und der erhöhten industriellen Thätigkeit
haben auch die Verhältnisse des Geldwerths und mit ihnen die der einzelnen
Klassen und Stände in kurzer Zeit sich gewaltig geändert; und während alle
Erzeugnisse der Landwirthschaft und so mittelbar überhaupt die der materiellen
Erwcrbskräfte fortwährend im Preise steigen, seufzt dagegen vor Allem der
Stand, der in den früheren Zeiten eines noch mehr ideellen Lebens der Haupt¬
träger der geistigen BewcguUg war und der jetzt mit dem fixen Betrage, auf
den er angewiesen ist, sich auch ökonomisch immer mehr im Nachtheil sieht,
der Beamtenstand in seinen verschiedensten Zweigen. Und so bereitet sich auch
von dieser Seite aus ein immer stärkerer Umschwung, indem statt des einst
vorzugsweise angestrebten Staatsdienstes und der geistigen Berufsformen viel¬
mehr die materiellen Erwerbszweige immer mehr Kräfte an sich ziehen.

In so grellem Gegensatze nun aber diese jetzige Phase, in welcher das
Leben unserer Nation angelangt ist, zu der vorausgegangenen philosophischen
und dichterischen Periode zu stehen scheint, so wenig kann sich dem, der mit
dem Geiste dieser letzteren sich durchdrungen hat, entgehen, daß in ihr selbst
schon der Keim zu dieser jetzigen Gestalt der Dinge lag, ja daß selbst in dem¬
jenigen, was am fernsten von derselben abzuliegen scheint, in den Erzeugnissen
und der Geistesentwicklung unserer classischen Dichter, geradezu prophetische
Vorbilder einer solchen künstigen Gestaltung sich finden und eben damit auch von
selbst die Hoffnung begründet ist, daß das Einseitige und Unwahre, was der
jetzigen Bewegung noch anhaftet, einst in einer letzten gereifteren Frucht über¬
wunden sein und so auch der ideale, aber noch unentwickelte Kern jenes früheren
Strebens seine volle leibliche und menschlich-bürgerliche Ausprägung noch erhalten
werde.'''


Zeit, der enge und im gewohnten Gleis sich fortschleppende Gesichtskreis bäuer¬
lichen Lebens und des bloßen Kleingewerbes mehr zu Hause, als in Schwaben.

Das Obige gibt von einem bloßen einzelnen Theile aus, aber ebendamit
nur um so augenfälliger und deutlicher, ein Bild des Umschwunges, der im
Leben unserer ganzen Nation vor sich gegangen ist und der ja, ganz abgesehen
von den unmittelbar nationalen Fragen auch in der ganzen Literatur nicht weniger
fühlbar ist. Denn wie hier Philosophie und Theologie dem empirisch-realistischen
Zuge der Zeit, der exacten Geschichtsforschung und Naturwissenschaft Platz
gemacht haben, so ist ja auch in der Dichtung und in der Unterhaltungslectüre
ein gleicher Geist nicht zu verkennen, und stärker noch als in den Dorfgeschichten,
in den halb ästhetischen Schilderungen und Reflexionen aus der „Naturgeschichte
des Volks" u. tgi., spiegelt er sich in der Masse von Schriften, die aus all'
den verschiedenen Gebieten der Natur, der Erdkunde u. f. w. ihren Stoff
entnehmen. Aber auch noch von einer ganz anderen reellen Seite her, von
der ökonomischen, macht sich diese Veränderung fühlbar. Denn mit der uni¬
versellen Gestaltung des Verkehrs und der erhöhten industriellen Thätigkeit
haben auch die Verhältnisse des Geldwerths und mit ihnen die der einzelnen
Klassen und Stände in kurzer Zeit sich gewaltig geändert; und während alle
Erzeugnisse der Landwirthschaft und so mittelbar überhaupt die der materiellen
Erwcrbskräfte fortwährend im Preise steigen, seufzt dagegen vor Allem der
Stand, der in den früheren Zeiten eines noch mehr ideellen Lebens der Haupt¬
träger der geistigen BewcguUg war und der jetzt mit dem fixen Betrage, auf
den er angewiesen ist, sich auch ökonomisch immer mehr im Nachtheil sieht,
der Beamtenstand in seinen verschiedensten Zweigen. Und so bereitet sich auch
von dieser Seite aus ein immer stärkerer Umschwung, indem statt des einst
vorzugsweise angestrebten Staatsdienstes und der geistigen Berufsformen viel¬
mehr die materiellen Erwerbszweige immer mehr Kräfte an sich ziehen.

In so grellem Gegensatze nun aber diese jetzige Phase, in welcher das
Leben unserer Nation angelangt ist, zu der vorausgegangenen philosophischen
und dichterischen Periode zu stehen scheint, so wenig kann sich dem, der mit
dem Geiste dieser letzteren sich durchdrungen hat, entgehen, daß in ihr selbst
schon der Keim zu dieser jetzigen Gestalt der Dinge lag, ja daß selbst in dem¬
jenigen, was am fernsten von derselben abzuliegen scheint, in den Erzeugnissen
und der Geistesentwicklung unserer classischen Dichter, geradezu prophetische
Vorbilder einer solchen künstigen Gestaltung sich finden und eben damit auch von
selbst die Hoffnung begründet ist, daß das Einseitige und Unwahre, was der
jetzigen Bewegung noch anhaftet, einst in einer letzten gereifteren Frucht über¬
wunden sein und so auch der ideale, aber noch unentwickelte Kern jenes früheren
Strebens seine volle leibliche und menschlich-bürgerliche Ausprägung noch erhalten
werde.'''


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/132>, abgerufen am 15.05.2024.