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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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kahle, dann an die Natur in der Bedingtheit des ganz realen Momentes ver¬
wies, konnte natürlich durch irgend eine Schule nicht überliefert werden.
Es handelte sich ja nicht um eine Durchdringung der Wirklichkeit mit der
künstlerischen Anschauung, wodurch diese einen lebensvollen Inhalt erhielte,
jene beseelt und geläutert würde: in einem solchen Falle bilden sich allerdings
gewisse Gesetze der Auffassung und Behandlung, welche vom Meister auf die
Schüler übergehen können. Zudem kam es den Romantikern, wenn wir von
G6riccmlt absehen, auf eine tiefere und gründliche Kenntniß der Form und
Modellirung nicht an, und diese ist es doch nur. welche sich im eigentlichen
Sinne des Wortes lehren läßt. Ihr Einfluß bestand vielmehr in einer all¬
gemeinen Einwirkung auf die Anschauungsweise und einer mehr äußerlichen
Verbreitung ihrer Art der Darstellung. Auf das Wirksame, das Ungewöhn¬
liche, Frappante, das Erschütternde und Furchtbare wandte sich in der Kunst
wie in der Literatur die Neigung des Zeitalters, wie denn der Franzose von
Haus aus den spannenden Effect eines wild ausbrechenden Pathos, die Schneide
des grell entscheidenden dramatischen Momentes mit Vorliebe und mit Ge¬
schick behandelt. Dazu kam der Reiz eines Colonts, das die Dinge in eme
bisher ungekannte Gluth des Lebens zu tauchen schien, und eine Ausführung,
welche durch kecken und kräftigen Auftrag und augenscheinliche Geschicklichkeit
der Hand das Auge bestach. So gab es denn, außer jenen, welche aus Trieb
und Anlage fest zur Jngresschen Schule oder zur idealen Richtung überhaupt
hielten, bald keinen jungen Künstler mehr, der sich nicht mehr oder minder
entschieden auf die Seite der Romantiker geschlagen hätte, man sah vom Ende
der zwanziger bis tief in die vierziger Jahre eine Menge von immer neu er¬
greifenden Scenen, welche die unbändigen Leidenschaften und schweren Schick¬
sale des Menschengeschlechts bald in mehr phantastischer, bald in mehr rea¬
listischer Auffassung behandelten. Und wählten sich die Maler einmal
anspruchslosere Motive, so ging es doch ohne eine tiefere Beziehung und
ohne Versuch einer genialen Eigenthümlichkeit i" der Darstellung nicht ab.

Gleichzeitig mit Delacroix. aber entschieden unter seinem Einflüsse ging
Lavier Ligalon (1788 -- 1837). ebenfalls ein Schüler Guörins. von der
classischen Richtung zur romantischen über; nur daß er von jener ein sorg¬
fältigeres Studium der menschlichen Form und -- seltsamerweise -- eine ge¬
wisse Vorliebe sür die Stoffe der französischen Tragödie mit herübernahm.
Er bildete auf diese Weise eine Art von Vermittlung zwischen beiden Schulen.
Er wählte am liebsten Motive von erschütternder Wirkung und wußte ihrer
Darstellung durch eine düstere Stimmung in der Composition. heftiges Leben
in der Bewegung und ein tiefes, Sattes Colorit den gehörigen Effect zu geben
(Locusta gibt das für Britanniens bestimmte Gift dem Narciß, der dessen
Wirksamkeit an einem sterbenden Sklaven beobachtet, v. Jahr 1824; Königin


kahle, dann an die Natur in der Bedingtheit des ganz realen Momentes ver¬
wies, konnte natürlich durch irgend eine Schule nicht überliefert werden.
Es handelte sich ja nicht um eine Durchdringung der Wirklichkeit mit der
künstlerischen Anschauung, wodurch diese einen lebensvollen Inhalt erhielte,
jene beseelt und geläutert würde: in einem solchen Falle bilden sich allerdings
gewisse Gesetze der Auffassung und Behandlung, welche vom Meister auf die
Schüler übergehen können. Zudem kam es den Romantikern, wenn wir von
G6riccmlt absehen, auf eine tiefere und gründliche Kenntniß der Form und
Modellirung nicht an, und diese ist es doch nur. welche sich im eigentlichen
Sinne des Wortes lehren läßt. Ihr Einfluß bestand vielmehr in einer all¬
gemeinen Einwirkung auf die Anschauungsweise und einer mehr äußerlichen
Verbreitung ihrer Art der Darstellung. Auf das Wirksame, das Ungewöhn¬
liche, Frappante, das Erschütternde und Furchtbare wandte sich in der Kunst
wie in der Literatur die Neigung des Zeitalters, wie denn der Franzose von
Haus aus den spannenden Effect eines wild ausbrechenden Pathos, die Schneide
des grell entscheidenden dramatischen Momentes mit Vorliebe und mit Ge¬
schick behandelt. Dazu kam der Reiz eines Colonts, das die Dinge in eme
bisher ungekannte Gluth des Lebens zu tauchen schien, und eine Ausführung,
welche durch kecken und kräftigen Auftrag und augenscheinliche Geschicklichkeit
der Hand das Auge bestach. So gab es denn, außer jenen, welche aus Trieb
und Anlage fest zur Jngresschen Schule oder zur idealen Richtung überhaupt
hielten, bald keinen jungen Künstler mehr, der sich nicht mehr oder minder
entschieden auf die Seite der Romantiker geschlagen hätte, man sah vom Ende
der zwanziger bis tief in die vierziger Jahre eine Menge von immer neu er¬
greifenden Scenen, welche die unbändigen Leidenschaften und schweren Schick¬
sale des Menschengeschlechts bald in mehr phantastischer, bald in mehr rea¬
listischer Auffassung behandelten. Und wählten sich die Maler einmal
anspruchslosere Motive, so ging es doch ohne eine tiefere Beziehung und
ohne Versuch einer genialen Eigenthümlichkeit i» der Darstellung nicht ab.

Gleichzeitig mit Delacroix. aber entschieden unter seinem Einflüsse ging
Lavier Ligalon (1788 — 1837). ebenfalls ein Schüler Guörins. von der
classischen Richtung zur romantischen über; nur daß er von jener ein sorg¬
fältigeres Studium der menschlichen Form und — seltsamerweise — eine ge¬
wisse Vorliebe sür die Stoffe der französischen Tragödie mit herübernahm.
Er bildete auf diese Weise eine Art von Vermittlung zwischen beiden Schulen.
Er wählte am liebsten Motive von erschütternder Wirkung und wußte ihrer
Darstellung durch eine düstere Stimmung in der Composition. heftiges Leben
in der Bewegung und ein tiefes, Sattes Colorit den gehörigen Effect zu geben
(Locusta gibt das für Britanniens bestimmte Gift dem Narciß, der dessen
Wirksamkeit an einem sterbenden Sklaven beobachtet, v. Jahr 1824; Königin


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[0231] kahle, dann an die Natur in der Bedingtheit des ganz realen Momentes ver¬ wies, konnte natürlich durch irgend eine Schule nicht überliefert werden. Es handelte sich ja nicht um eine Durchdringung der Wirklichkeit mit der künstlerischen Anschauung, wodurch diese einen lebensvollen Inhalt erhielte, jene beseelt und geläutert würde: in einem solchen Falle bilden sich allerdings gewisse Gesetze der Auffassung und Behandlung, welche vom Meister auf die Schüler übergehen können. Zudem kam es den Romantikern, wenn wir von G6riccmlt absehen, auf eine tiefere und gründliche Kenntniß der Form und Modellirung nicht an, und diese ist es doch nur. welche sich im eigentlichen Sinne des Wortes lehren läßt. Ihr Einfluß bestand vielmehr in einer all¬ gemeinen Einwirkung auf die Anschauungsweise und einer mehr äußerlichen Verbreitung ihrer Art der Darstellung. Auf das Wirksame, das Ungewöhn¬ liche, Frappante, das Erschütternde und Furchtbare wandte sich in der Kunst wie in der Literatur die Neigung des Zeitalters, wie denn der Franzose von Haus aus den spannenden Effect eines wild ausbrechenden Pathos, die Schneide des grell entscheidenden dramatischen Momentes mit Vorliebe und mit Ge¬ schick behandelt. Dazu kam der Reiz eines Colonts, das die Dinge in eme bisher ungekannte Gluth des Lebens zu tauchen schien, und eine Ausführung, welche durch kecken und kräftigen Auftrag und augenscheinliche Geschicklichkeit der Hand das Auge bestach. So gab es denn, außer jenen, welche aus Trieb und Anlage fest zur Jngresschen Schule oder zur idealen Richtung überhaupt hielten, bald keinen jungen Künstler mehr, der sich nicht mehr oder minder entschieden auf die Seite der Romantiker geschlagen hätte, man sah vom Ende der zwanziger bis tief in die vierziger Jahre eine Menge von immer neu er¬ greifenden Scenen, welche die unbändigen Leidenschaften und schweren Schick¬ sale des Menschengeschlechts bald in mehr phantastischer, bald in mehr rea¬ listischer Auffassung behandelten. Und wählten sich die Maler einmal anspruchslosere Motive, so ging es doch ohne eine tiefere Beziehung und ohne Versuch einer genialen Eigenthümlichkeit i» der Darstellung nicht ab. Gleichzeitig mit Delacroix. aber entschieden unter seinem Einflüsse ging Lavier Ligalon (1788 — 1837). ebenfalls ein Schüler Guörins. von der classischen Richtung zur romantischen über; nur daß er von jener ein sorg¬ fältigeres Studium der menschlichen Form und — seltsamerweise — eine ge¬ wisse Vorliebe sür die Stoffe der französischen Tragödie mit herübernahm. Er bildete auf diese Weise eine Art von Vermittlung zwischen beiden Schulen. Er wählte am liebsten Motive von erschütternder Wirkung und wußte ihrer Darstellung durch eine düstere Stimmung in der Composition. heftiges Leben in der Bewegung und ein tiefes, Sattes Colorit den gehörigen Effect zu geben (Locusta gibt das für Britanniens bestimmte Gift dem Narciß, der dessen Wirksamkeit an einem sterbenden Sklaven beobachtet, v. Jahr 1824; Königin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/231>, abgerufen am 29.04.2024.