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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Kunst. Nicht daß er ihn nachgeahmt hätte; sondern er bemühte sich, die
Natur ebenso wie dieser zu sehen und das Leben in der anmuthigen Kraft
und Fülle zu bilden, die dem italienischen Meister eigen ist. Schon die oben¬
erwähnten Bilder aus dem Jahre 1819 tragen das Gepräge dieser Anschauung.

Nach ihnen entstand im Jahre 1820 das größere Gemälde "Petrus die
Schlüssel aus der Hand Christi empfangend", in der Galerie des Luxemburg.
Es ist begreiflich, daß Ingres in der religiösen Kunst ein günstiges Feld für
seine Richtung fand; die Gestalten, welche von der Malerei des Cinquecento
ein neues eigenthümliches Leben empfangen hatten, waren der künstlerischen
Phantasie nahe und vertraut. Nun erst zeigte Ingres, wie gründlich er sein
Talent gebildet hatte, daß er innerhalb der Anschauung eines vergangenen
Zeitalters und doch in selbständiger Weise productiv sein konnte. Es ist in
dem Bilde, was sich in der religiösen Kunst der Gegenwart nur ausnahms¬
weise vereinigt findet: ein natürliches Leben und eine innige Empfindung,
verbunden mit einer einfachen Schönheit der Erscheinung. Die verschiedenen
Charaktere sind vortrefflich ausgedrückt; in Christus schlichte Würde, in Petrus
vertrauensvolle Andacht, in den übrigen Aposteln der eigentliche Typus, den
ihnen das Evangelium gibt. Ingres hat es verstanden, mit der idealen Auf¬
fassung das Gepräge der Wirklichkeit und der Individualität zu vereinigen.
Vielleicht ist keines seiner religiösen Bilder so lebendig, macht keines einen
so ernsten und wahren Eindruck, als gerade dieses erste. Die Abtrennung von
der Gegenwart und Rückversetzung in frühere Zeiten hat immer etwas Ge¬
waltsames: einmal mag es dem Künstler gelingen, mit seinem ganzen Wesen
in die vergangene Anschauung einzugehen und sie durchaus neu zu beleben,
aber aus die Dauer wird sich das Künstliche dieser Bildungsweise nicht ver¬
leugnen.

Je entschiedener die gleichzeitige Malerei von dem classischen Ideal zu
einer realistischen Auffassung drängte, nur um so strenger hielt Ingres an sei¬
nem Borbilde fest. Er war 1820 von Rom nach Florenz gezogen; aber so
tief hatte er sich in Raphael eingelebt, daß während seines dortigen Aufent¬
halts die florentinische Kunst ihn kaum berührte. Das Altarbild "le vosu as
I^ouis XIII", das er im Jahre 1824 ausstellte, war ganz im Sinn der
Raphaelischen Muster; die Verwandtschaft mit der Madonna von Foligno
siel gleich Anfangs auf. Seltsam, daß sich Ingres gerade an diese Auffassung
der Maria als Himmelskönigin anlehnte, in der dieselbe doch viel weniger
von göttlicher Würde, als von irdischem Reize und die Verzückung der Heili¬
gen etwas Gemachtes hat. Auch seine Madonna ist nicht frei von oberfläch¬
licher Weltlichkeit, sein Ludwig hat in der Bewegung ein allzu sichtliches Pa¬
thos und die den Vorhang haltenden Engel eine Schönheit, die nur da zu
sein scheint, um sich zu zeigen. Aber die edle im echten Sinne der Kunst ge-


Kunst. Nicht daß er ihn nachgeahmt hätte; sondern er bemühte sich, die
Natur ebenso wie dieser zu sehen und das Leben in der anmuthigen Kraft
und Fülle zu bilden, die dem italienischen Meister eigen ist. Schon die oben¬
erwähnten Bilder aus dem Jahre 1819 tragen das Gepräge dieser Anschauung.

Nach ihnen entstand im Jahre 1820 das größere Gemälde „Petrus die
Schlüssel aus der Hand Christi empfangend", in der Galerie des Luxemburg.
Es ist begreiflich, daß Ingres in der religiösen Kunst ein günstiges Feld für
seine Richtung fand; die Gestalten, welche von der Malerei des Cinquecento
ein neues eigenthümliches Leben empfangen hatten, waren der künstlerischen
Phantasie nahe und vertraut. Nun erst zeigte Ingres, wie gründlich er sein
Talent gebildet hatte, daß er innerhalb der Anschauung eines vergangenen
Zeitalters und doch in selbständiger Weise productiv sein konnte. Es ist in
dem Bilde, was sich in der religiösen Kunst der Gegenwart nur ausnahms¬
weise vereinigt findet: ein natürliches Leben und eine innige Empfindung,
verbunden mit einer einfachen Schönheit der Erscheinung. Die verschiedenen
Charaktere sind vortrefflich ausgedrückt; in Christus schlichte Würde, in Petrus
vertrauensvolle Andacht, in den übrigen Aposteln der eigentliche Typus, den
ihnen das Evangelium gibt. Ingres hat es verstanden, mit der idealen Auf¬
fassung das Gepräge der Wirklichkeit und der Individualität zu vereinigen.
Vielleicht ist keines seiner religiösen Bilder so lebendig, macht keines einen
so ernsten und wahren Eindruck, als gerade dieses erste. Die Abtrennung von
der Gegenwart und Rückversetzung in frühere Zeiten hat immer etwas Ge¬
waltsames: einmal mag es dem Künstler gelingen, mit seinem ganzen Wesen
in die vergangene Anschauung einzugehen und sie durchaus neu zu beleben,
aber aus die Dauer wird sich das Künstliche dieser Bildungsweise nicht ver¬
leugnen.

Je entschiedener die gleichzeitige Malerei von dem classischen Ideal zu
einer realistischen Auffassung drängte, nur um so strenger hielt Ingres an sei¬
nem Borbilde fest. Er war 1820 von Rom nach Florenz gezogen; aber so
tief hatte er sich in Raphael eingelebt, daß während seines dortigen Aufent¬
halts die florentinische Kunst ihn kaum berührte. Das Altarbild „le vosu as
I^ouis XIII", das er im Jahre 1824 ausstellte, war ganz im Sinn der
Raphaelischen Muster; die Verwandtschaft mit der Madonna von Foligno
siel gleich Anfangs auf. Seltsam, daß sich Ingres gerade an diese Auffassung
der Maria als Himmelskönigin anlehnte, in der dieselbe doch viel weniger
von göttlicher Würde, als von irdischem Reize und die Verzückung der Heili¬
gen etwas Gemachtes hat. Auch seine Madonna ist nicht frei von oberfläch¬
licher Weltlichkeit, sein Ludwig hat in der Bewegung ein allzu sichtliches Pa¬
thos und die den Vorhang haltenden Engel eine Schönheit, die nur da zu
sein scheint, um sich zu zeigen. Aber die edle im echten Sinne der Kunst ge-


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[0046] Kunst. Nicht daß er ihn nachgeahmt hätte; sondern er bemühte sich, die Natur ebenso wie dieser zu sehen und das Leben in der anmuthigen Kraft und Fülle zu bilden, die dem italienischen Meister eigen ist. Schon die oben¬ erwähnten Bilder aus dem Jahre 1819 tragen das Gepräge dieser Anschauung. Nach ihnen entstand im Jahre 1820 das größere Gemälde „Petrus die Schlüssel aus der Hand Christi empfangend", in der Galerie des Luxemburg. Es ist begreiflich, daß Ingres in der religiösen Kunst ein günstiges Feld für seine Richtung fand; die Gestalten, welche von der Malerei des Cinquecento ein neues eigenthümliches Leben empfangen hatten, waren der künstlerischen Phantasie nahe und vertraut. Nun erst zeigte Ingres, wie gründlich er sein Talent gebildet hatte, daß er innerhalb der Anschauung eines vergangenen Zeitalters und doch in selbständiger Weise productiv sein konnte. Es ist in dem Bilde, was sich in der religiösen Kunst der Gegenwart nur ausnahms¬ weise vereinigt findet: ein natürliches Leben und eine innige Empfindung, verbunden mit einer einfachen Schönheit der Erscheinung. Die verschiedenen Charaktere sind vortrefflich ausgedrückt; in Christus schlichte Würde, in Petrus vertrauensvolle Andacht, in den übrigen Aposteln der eigentliche Typus, den ihnen das Evangelium gibt. Ingres hat es verstanden, mit der idealen Auf¬ fassung das Gepräge der Wirklichkeit und der Individualität zu vereinigen. Vielleicht ist keines seiner religiösen Bilder so lebendig, macht keines einen so ernsten und wahren Eindruck, als gerade dieses erste. Die Abtrennung von der Gegenwart und Rückversetzung in frühere Zeiten hat immer etwas Ge¬ waltsames: einmal mag es dem Künstler gelingen, mit seinem ganzen Wesen in die vergangene Anschauung einzugehen und sie durchaus neu zu beleben, aber aus die Dauer wird sich das Künstliche dieser Bildungsweise nicht ver¬ leugnen. Je entschiedener die gleichzeitige Malerei von dem classischen Ideal zu einer realistischen Auffassung drängte, nur um so strenger hielt Ingres an sei¬ nem Borbilde fest. Er war 1820 von Rom nach Florenz gezogen; aber so tief hatte er sich in Raphael eingelebt, daß während seines dortigen Aufent¬ halts die florentinische Kunst ihn kaum berührte. Das Altarbild „le vosu as I^ouis XIII", das er im Jahre 1824 ausstellte, war ganz im Sinn der Raphaelischen Muster; die Verwandtschaft mit der Madonna von Foligno siel gleich Anfangs auf. Seltsam, daß sich Ingres gerade an diese Auffassung der Maria als Himmelskönigin anlehnte, in der dieselbe doch viel weniger von göttlicher Würde, als von irdischem Reize und die Verzückung der Heili¬ gen etwas Gemachtes hat. Auch seine Madonna ist nicht frei von oberfläch¬ licher Weltlichkeit, sein Ludwig hat in der Bewegung ein allzu sichtliches Pa¬ thos und die den Vorhang haltenden Engel eine Schönheit, die nur da zu sein scheint, um sich zu zeigen. Aber die edle im echten Sinne der Kunst ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/46>, abgerufen am 27.04.2024.