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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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geschneit und schneidet die Hauptlinie der ganzen Anordnung mitten durch.
So entspricht das Bild in seiner Gesammtwirkung keineswegs der Vollendung
des Einzelnen, und der Eindruck wird durch den Mangel des Lebens in der
Beziehung der Figuren geschwächt. Es wird dem Beschauer klar, daß sich
hinter der Menge der verwirrenden Gestalten eine innere Armuth der Er¬
findung versteckt und daß es an der schöpferischen Fülle und Mannigfaltigkeit
der Phantasie fehlt, welche idre Objecte in eine bestimmte belebende Situation
jetzt. Wie sehr hierin die alte Kunst die neue überragt, zeigt ein Blick ans
Raphael's Schule von Athen.

Und eben jener Reichthum der Phantasie ist es, der dem großen Talent
Ingres' überhaupt versagt war. In seinen religiösen Bildern ersetzte sich die¬
ser Mangel durch den Anschluß an die hergebrachte Anschauung oder den
wirklichen Vorfall; seine historischen Gemälde behandeln meistens Motive, die
der Beschauer kennen muß und welche die Kunst zum unmittelbaren Verständ¬
niß kaum herausbilden kann. Von derselben Armuth einer eigenthümlich
schaffenden Phantasie zeugen eine Reihe von Bildern, welche Vorfälle aus der
neueren und Kunstgeschichte darstellen' (Jean Pastorat, Don Pedro de Toledo,
der Degen Heinrichs des Vierten. Heinrich der Vierte mit seinen Kindern,
Raphael und Fornarina, Tod Leonardo's da Vinci, Tintoretto und Arelim
u. s. f.). Das Mittelalter und die Renaissance waren eigentlich Ingres' Sache
nicht; am wenigsten das anekdotenhaft historische Genre, welches sich aus jenen
Zeiten seine Stoffe holt und das die Kunst der zwanziger Jahre vornehmlich
ausbildete. Der Maler ließ sich durch den Ausschwung dieser Richtung ver¬
leiten, sich auf demselben Felde zu versuchen, und doch widerstrebten eigentlich
seiner großen stylvollen Auffassung diese Stoffe, die in den heißen Farbenschein
und das Drängen eines mannigfach verwickelten und gebrochenen Lebens eingehen.

Es ist daher in diesen Bildern Ingres' meistens etwas Gezwungenes, ein
Adel der Form und Bewegung, der nicht aus den Motiven selber heraus¬
gewachsen, sondern ihnen angeheftet scheint, dann nicht selten wieder, indem
doch der Künstler wieder seinem Gegenstande gerecht zu werden suchte, eine
Bewegtheit des Ausdrucks und der Stellungen, welche das Maaß fast über¬
schreitet. Zu dem Anziehendsten dieser Art gehört die Fumcesca da Runini
(1820), die der Geliebte in, seinen Armen hält, während im Hintergründe der
Gatte hereintritt und das Schwert zieht; hier ist die edle und zugleich eigen¬
thümliche lebendige Haltung der Figuren von großem Nerz, wenn auch die
Francesca in ihrer Theilnahme am Vorgange zu passiv erscheint. Bei einer
Johanna von Orleans aus der späteren Zeit (bei der Krönung Karls des
Siebenten) ist die ruhige Würde, in der mehr stille Ergebung, als Heroismus
sich ausspricht, ganz am Platze und entschädigt für den Mangel an Tiefe des
Ausdrucks.


geschneit und schneidet die Hauptlinie der ganzen Anordnung mitten durch.
So entspricht das Bild in seiner Gesammtwirkung keineswegs der Vollendung
des Einzelnen, und der Eindruck wird durch den Mangel des Lebens in der
Beziehung der Figuren geschwächt. Es wird dem Beschauer klar, daß sich
hinter der Menge der verwirrenden Gestalten eine innere Armuth der Er¬
findung versteckt und daß es an der schöpferischen Fülle und Mannigfaltigkeit
der Phantasie fehlt, welche idre Objecte in eine bestimmte belebende Situation
jetzt. Wie sehr hierin die alte Kunst die neue überragt, zeigt ein Blick ans
Raphael's Schule von Athen.

Und eben jener Reichthum der Phantasie ist es, der dem großen Talent
Ingres' überhaupt versagt war. In seinen religiösen Bildern ersetzte sich die¬
ser Mangel durch den Anschluß an die hergebrachte Anschauung oder den
wirklichen Vorfall; seine historischen Gemälde behandeln meistens Motive, die
der Beschauer kennen muß und welche die Kunst zum unmittelbaren Verständ¬
niß kaum herausbilden kann. Von derselben Armuth einer eigenthümlich
schaffenden Phantasie zeugen eine Reihe von Bildern, welche Vorfälle aus der
neueren und Kunstgeschichte darstellen' (Jean Pastorat, Don Pedro de Toledo,
der Degen Heinrichs des Vierten. Heinrich der Vierte mit seinen Kindern,
Raphael und Fornarina, Tod Leonardo's da Vinci, Tintoretto und Arelim
u. s. f.). Das Mittelalter und die Renaissance waren eigentlich Ingres' Sache
nicht; am wenigsten das anekdotenhaft historische Genre, welches sich aus jenen
Zeiten seine Stoffe holt und das die Kunst der zwanziger Jahre vornehmlich
ausbildete. Der Maler ließ sich durch den Ausschwung dieser Richtung ver¬
leiten, sich auf demselben Felde zu versuchen, und doch widerstrebten eigentlich
seiner großen stylvollen Auffassung diese Stoffe, die in den heißen Farbenschein
und das Drängen eines mannigfach verwickelten und gebrochenen Lebens eingehen.

Es ist daher in diesen Bildern Ingres' meistens etwas Gezwungenes, ein
Adel der Form und Bewegung, der nicht aus den Motiven selber heraus¬
gewachsen, sondern ihnen angeheftet scheint, dann nicht selten wieder, indem
doch der Künstler wieder seinem Gegenstande gerecht zu werden suchte, eine
Bewegtheit des Ausdrucks und der Stellungen, welche das Maaß fast über¬
schreitet. Zu dem Anziehendsten dieser Art gehört die Fumcesca da Runini
(1820), die der Geliebte in, seinen Armen hält, während im Hintergründe der
Gatte hereintritt und das Schwert zieht; hier ist die edle und zugleich eigen¬
thümliche lebendige Haltung der Figuren von großem Nerz, wenn auch die
Francesca in ihrer Theilnahme am Vorgange zu passiv erscheint. Bei einer
Johanna von Orleans aus der späteren Zeit (bei der Krönung Karls des
Siebenten) ist die ruhige Würde, in der mehr stille Ergebung, als Heroismus
sich ausspricht, ganz am Platze und entschädigt für den Mangel an Tiefe des
Ausdrucks.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/82>, abgerufen am 15.05.2024.