Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

beiden Seiten der Apenninen. Schon aus den Völkernamcn, welche in den
Jahrhunderten der Völkerwanderung auf italienischem Boden genannt werden,
läßt sich schließen, daß es damals kaum einen deutschen Stamm gab, der sich
nicht gewöhnt hatte, Italien als seinen Jagd- und Bcutegrund oder gar als
seine Heimath zu betrachten; demselben Zuge der zur Zeit des Augustus einzelne
Verbannte oder Abenteurer nach dem Süden gezogen hatte, waren jetzt die Völ¬
ker gefolgt. Seit den Zügen von Alarich und Hradagais, seit Odoaker, den Gothen
und Langobarden war Italien nach der Anschauung der deutschen Zeitgenossen
ein Land, das ihnen gehörte, so gut als das Land der Baiern, Schwaben.
Alemannen, welches auch früher in Nömcrhand gewesen war. eben so sehr
als das Gallien um die Seine, welches die Franken erworben hatten, und als
das Britenland, in welchem erobernde sächsische Stämme erstaunt die Trüm¬
mer verlassener römischer Tempel gefunden hatten.

Aus diesem Gefühl, daß Italien deutsches Eigenthum sei, aus tausend
Ueberlieferungen germanischer Sage und Poesie, aus den Erinnerungen fast
aller Stämme, Geschlechter und Familien ist die unwiderstehliche Zugkraft zu
erklären, welche die Halbinsel durch das ganze Mittelalter auf die einzelnen
Deutschen ausübte, auf Kaiser und abenteuernde Söldner, aus stille Gelehrte
und fahrende Schüler. Auf diesem Zuge des deutschen Gemüths beruht auch
im letzten Grunde der Einfluß, welchen der römische Bischof über die deut¬
chen Stämme ausübte.

Die neuen geistigen Fesseln, durch weiche die römische Kirche, solche phan¬
tastische Anhänglichkeit der Germanen benutzend, alle deutschen Stämme an
sich band und den römischen Bischof zum Herrn eines neuen Weltreichs zu
machen wußte, sind aus der Geschichte bekannt.

Durch 1500 Jahre politischer und geistiger Abhängigkeit bezahlten die
Deutschen ihre ersten, feindlichen Zuge über die Alpen; fast alles Gute und
Bildende, was während dieser langen Periode in ihr Leben siel, fast alles
Schlechte und Verderbliche, das von außen her ihre Sitten verdarb, ihr Staats¬
leben zerstörte, holten sie aus Italien. Erst durch die schwarze Kunst des Bücher¬
drucks wurde die Mehrzahl der Deutschen von dieser Herrschaft eines fremden Lan¬
des befreit. Die Humanisten und der große Wittenberger Mönch sprengten die
römisch" Kette. Aber noch heute leiden wir an einer ultramontanen Partei.

Der übermächtigen Einwirkung Italiens folgte durch 300 Jahr bei den
Deutschen in anderen Formen eine fast ebenso übermächtige Einwirkung
Frankreichs. Erst dnrch Lessing und die Freiheitskriege sind die Deutschen
von der Herrschaft des zweiten Nachbarn befreit worden. Wir sind gegen¬
wärtig in den ersten Anfängen eines nationalen Lebens, welches die Quellen
der Energie und Thatkraft, Bildung und Verständniß des Lebens zuerst und
vor Allem in dem heimischen Boden sucht.




beiden Seiten der Apenninen. Schon aus den Völkernamcn, welche in den
Jahrhunderten der Völkerwanderung auf italienischem Boden genannt werden,
läßt sich schließen, daß es damals kaum einen deutschen Stamm gab, der sich
nicht gewöhnt hatte, Italien als seinen Jagd- und Bcutegrund oder gar als
seine Heimath zu betrachten; demselben Zuge der zur Zeit des Augustus einzelne
Verbannte oder Abenteurer nach dem Süden gezogen hatte, waren jetzt die Völ¬
ker gefolgt. Seit den Zügen von Alarich und Hradagais, seit Odoaker, den Gothen
und Langobarden war Italien nach der Anschauung der deutschen Zeitgenossen
ein Land, das ihnen gehörte, so gut als das Land der Baiern, Schwaben.
Alemannen, welches auch früher in Nömcrhand gewesen war. eben so sehr
als das Gallien um die Seine, welches die Franken erworben hatten, und als
das Britenland, in welchem erobernde sächsische Stämme erstaunt die Trüm¬
mer verlassener römischer Tempel gefunden hatten.

Aus diesem Gefühl, daß Italien deutsches Eigenthum sei, aus tausend
Ueberlieferungen germanischer Sage und Poesie, aus den Erinnerungen fast
aller Stämme, Geschlechter und Familien ist die unwiderstehliche Zugkraft zu
erklären, welche die Halbinsel durch das ganze Mittelalter auf die einzelnen
Deutschen ausübte, auf Kaiser und abenteuernde Söldner, aus stille Gelehrte
und fahrende Schüler. Auf diesem Zuge des deutschen Gemüths beruht auch
im letzten Grunde der Einfluß, welchen der römische Bischof über die deut¬
chen Stämme ausübte.

Die neuen geistigen Fesseln, durch weiche die römische Kirche, solche phan¬
tastische Anhänglichkeit der Germanen benutzend, alle deutschen Stämme an
sich band und den römischen Bischof zum Herrn eines neuen Weltreichs zu
machen wußte, sind aus der Geschichte bekannt.

Durch 1500 Jahre politischer und geistiger Abhängigkeit bezahlten die
Deutschen ihre ersten, feindlichen Zuge über die Alpen; fast alles Gute und
Bildende, was während dieser langen Periode in ihr Leben siel, fast alles
Schlechte und Verderbliche, das von außen her ihre Sitten verdarb, ihr Staats¬
leben zerstörte, holten sie aus Italien. Erst durch die schwarze Kunst des Bücher¬
drucks wurde die Mehrzahl der Deutschen von dieser Herrschaft eines fremden Lan¬
des befreit. Die Humanisten und der große Wittenberger Mönch sprengten die
römisch« Kette. Aber noch heute leiden wir an einer ultramontanen Partei.

Der übermächtigen Einwirkung Italiens folgte durch 300 Jahr bei den
Deutschen in anderen Formen eine fast ebenso übermächtige Einwirkung
Frankreichs. Erst dnrch Lessing und die Freiheitskriege sind die Deutschen
von der Herrschaft des zweiten Nachbarn befreit worden. Wir sind gegen¬
wärtig in den ersten Anfängen eines nationalen Lebens, welches die Quellen
der Energie und Thatkraft, Bildung und Verständniß des Lebens zuerst und
vor Allem in dem heimischen Boden sucht.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0242" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/113484"/>
          <p xml:id="ID_717" prev="#ID_716"> beiden Seiten der Apenninen. Schon aus den Völkernamcn, welche in den<lb/>
Jahrhunderten der Völkerwanderung auf italienischem Boden genannt werden,<lb/>
läßt sich schließen, daß es damals kaum einen deutschen Stamm gab, der sich<lb/>
nicht gewöhnt hatte, Italien als seinen Jagd- und Bcutegrund oder gar als<lb/>
seine Heimath zu betrachten; demselben Zuge der zur Zeit des Augustus einzelne<lb/>
Verbannte oder Abenteurer nach dem Süden gezogen hatte, waren jetzt die Völ¬<lb/>
ker gefolgt. Seit den Zügen von Alarich und Hradagais, seit Odoaker, den Gothen<lb/>
und Langobarden war Italien nach der Anschauung der deutschen Zeitgenossen<lb/>
ein Land, das ihnen gehörte, so gut als das Land der Baiern, Schwaben.<lb/>
Alemannen, welches auch früher in Nömcrhand gewesen war. eben so sehr<lb/>
als das Gallien um die Seine, welches die Franken erworben hatten, und als<lb/>
das Britenland, in welchem erobernde sächsische Stämme erstaunt die Trüm¬<lb/>
mer verlassener römischer Tempel gefunden hatten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_718"> Aus diesem Gefühl, daß Italien deutsches Eigenthum sei, aus tausend<lb/>
Ueberlieferungen germanischer Sage und Poesie, aus den Erinnerungen fast<lb/>
aller Stämme, Geschlechter und Familien ist die unwiderstehliche Zugkraft zu<lb/>
erklären, welche die Halbinsel durch das ganze Mittelalter auf die einzelnen<lb/>
Deutschen ausübte, auf Kaiser und abenteuernde Söldner, aus stille Gelehrte<lb/>
und fahrende Schüler. Auf diesem Zuge des deutschen Gemüths beruht auch<lb/>
im letzten Grunde der Einfluß, welchen der römische Bischof über die deut¬<lb/>
chen Stämme ausübte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_719"> Die neuen geistigen Fesseln, durch weiche die römische Kirche, solche phan¬<lb/>
tastische Anhänglichkeit der Germanen benutzend, alle deutschen Stämme an<lb/>
sich band und den römischen Bischof zum Herrn eines neuen Weltreichs zu<lb/>
machen wußte, sind aus der Geschichte bekannt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_720"> Durch 1500 Jahre politischer und geistiger Abhängigkeit bezahlten die<lb/>
Deutschen ihre ersten, feindlichen Zuge über die Alpen; fast alles Gute und<lb/>
Bildende, was während dieser langen Periode in ihr Leben siel, fast alles<lb/>
Schlechte und Verderbliche, das von außen her ihre Sitten verdarb, ihr Staats¬<lb/>
leben zerstörte, holten sie aus Italien. Erst durch die schwarze Kunst des Bücher¬<lb/>
drucks wurde die Mehrzahl der Deutschen von dieser Herrschaft eines fremden Lan¬<lb/>
des befreit. Die Humanisten und der große Wittenberger Mönch sprengten die<lb/>
römisch« Kette.  Aber noch heute leiden wir an einer ultramontanen Partei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_721"> Der übermächtigen Einwirkung Italiens folgte durch 300 Jahr bei den<lb/>
Deutschen in anderen Formen eine fast ebenso übermächtige Einwirkung<lb/>
Frankreichs. Erst dnrch Lessing und die Freiheitskriege sind die Deutschen<lb/>
von der Herrschaft des zweiten Nachbarn befreit worden. Wir sind gegen¬<lb/>
wärtig in den ersten Anfängen eines nationalen Lebens, welches die Quellen<lb/>
der Energie und Thatkraft, Bildung und Verständniß des Lebens zuerst und<lb/>
vor Allem in dem heimischen Boden sucht.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0242] beiden Seiten der Apenninen. Schon aus den Völkernamcn, welche in den Jahrhunderten der Völkerwanderung auf italienischem Boden genannt werden, läßt sich schließen, daß es damals kaum einen deutschen Stamm gab, der sich nicht gewöhnt hatte, Italien als seinen Jagd- und Bcutegrund oder gar als seine Heimath zu betrachten; demselben Zuge der zur Zeit des Augustus einzelne Verbannte oder Abenteurer nach dem Süden gezogen hatte, waren jetzt die Völ¬ ker gefolgt. Seit den Zügen von Alarich und Hradagais, seit Odoaker, den Gothen und Langobarden war Italien nach der Anschauung der deutschen Zeitgenossen ein Land, das ihnen gehörte, so gut als das Land der Baiern, Schwaben. Alemannen, welches auch früher in Nömcrhand gewesen war. eben so sehr als das Gallien um die Seine, welches die Franken erworben hatten, und als das Britenland, in welchem erobernde sächsische Stämme erstaunt die Trüm¬ mer verlassener römischer Tempel gefunden hatten. Aus diesem Gefühl, daß Italien deutsches Eigenthum sei, aus tausend Ueberlieferungen germanischer Sage und Poesie, aus den Erinnerungen fast aller Stämme, Geschlechter und Familien ist die unwiderstehliche Zugkraft zu erklären, welche die Halbinsel durch das ganze Mittelalter auf die einzelnen Deutschen ausübte, auf Kaiser und abenteuernde Söldner, aus stille Gelehrte und fahrende Schüler. Auf diesem Zuge des deutschen Gemüths beruht auch im letzten Grunde der Einfluß, welchen der römische Bischof über die deut¬ chen Stämme ausübte. Die neuen geistigen Fesseln, durch weiche die römische Kirche, solche phan¬ tastische Anhänglichkeit der Germanen benutzend, alle deutschen Stämme an sich band und den römischen Bischof zum Herrn eines neuen Weltreichs zu machen wußte, sind aus der Geschichte bekannt. Durch 1500 Jahre politischer und geistiger Abhängigkeit bezahlten die Deutschen ihre ersten, feindlichen Zuge über die Alpen; fast alles Gute und Bildende, was während dieser langen Periode in ihr Leben siel, fast alles Schlechte und Verderbliche, das von außen her ihre Sitten verdarb, ihr Staats¬ leben zerstörte, holten sie aus Italien. Erst durch die schwarze Kunst des Bücher¬ drucks wurde die Mehrzahl der Deutschen von dieser Herrschaft eines fremden Lan¬ des befreit. Die Humanisten und der große Wittenberger Mönch sprengten die römisch« Kette. Aber noch heute leiden wir an einer ultramontanen Partei. Der übermächtigen Einwirkung Italiens folgte durch 300 Jahr bei den Deutschen in anderen Formen eine fast ebenso übermächtige Einwirkung Frankreichs. Erst dnrch Lessing und die Freiheitskriege sind die Deutschen von der Herrschaft des zweiten Nachbarn befreit worden. Wir sind gegen¬ wärtig in den ersten Anfängen eines nationalen Lebens, welches die Quellen der Energie und Thatkraft, Bildung und Verständniß des Lebens zuerst und vor Allem in dem heimischen Boden sucht.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/242
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/242>, abgerufen am 13.05.2024.