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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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all sichtbar; ja das Bestreben, an dem eigenen Leben zu bessern, demselben
nach allen Richtungen höhern Inhalt, größere Energie zu geben, ist gerade das
charakteristische Kennzeichen der Gegenwart im Gegensatz zur nächsten Ver¬
gangenheit geworden. Dabei hat sich auch das Verhältniß der Gebildeten
zu den kleinern Kreisen des deutschen Lebens, dem Landmann, dem Ar¬
beiter, dem kleinen Bürger umgeformt. Während man sich vor zwanzig
Jahren noch über die naturwüchsige Kraft dieser Berufsklassen wie staunend
freute, so oft unsere Novellisten dieselbe anmuthig vorzuführen wußten, ist
man jetzt mitten in der männlicheren Arbeit, die Schranken, welche den kleinen
Mann immer noch von der Bildung der Begünstigten trennen, niederzureißen,
unsere Bedürfnisse, unser Wissens, unsern Idealismus auch in sein Leben
hineinzutragen.

Wenn aber die Dorfgeschichten für uns an Werth verloren haben, so
dürfen wir doch nicht undankbar sein gegen das Gute, welches sie uns ver¬
mittelten. Es ist wahr, nur in einzelnen kam ein starkes schöpferisches Talent
oder ein liebevolles Behagen, welches auch das Kleine poetisch verklärt, zu
Tage, und wir fürchten, daß unsere Nachkommen über den dichterischen Werth
dieses Genre ohne die Vorliebe urtheilen werden, welche noch uns anhängt.
Aber dieser Zweig der deutscheu Literatur hat unzweifelhaft das große Verdienst,
ein lebendiges Interesse an den Zuständen des Volkes in weiten Kreisen angeregt
zu haben. Tausenden kam zum Bewußsein, daß im Leben des Landmanns und des
kleinen Arbeiters die gute unverwüstliche deutsche Natur sich noch sehr eigenthümlich
offenbare. Der sociale Reformator, ja selbst die Staatsregierungen gewannen
neue Gesichtspunkte für Beurtheilung einheimischer, lange nicht beachteter Ver¬
hältnisse. Aber auch die deutsche Wissenschaft blickte jetzt mit schärferem Auge
auf einheimische Zustände, in denen sich Uraltes und höchst Charakteristisches
bis zur Gegenwart erhalten hat. Man hatte schon früher begonnen die alten
Traditionen in Liedern und Sagen, in Sprache, Gebräuchen, in Festen und
Feierlichkeiten, in der Dorsflur und dem Hausbau des Landmanns zu sammeln
und zusammenzutragen. Jetzt wurde der Eifer allgemein. Man hatte schon
früher die Landschaft und die natürlichen Bedingungen, unter denen das Land¬
volk der einzelnen Stämme seine Eigenthümlichkeit entwickelte, beobachtet.
Jetzt begann man überall die Physiognomie der verschiedenen Gegenden, Bodcn-
cultur, altheimische Industrie mit Liebe und Geschick darzustellen. Die reiche
Literatur des Landes und der Leute wurde durch die Freude an den Dorfge¬
schichten wesentlich gefördert. Häusig blieb sie Dilettantenarbeit, welche
mehr Unterhaltung als Belehrung bezweckte, aber oft wurde sie in ern¬
stem wissenschaftlichem Sinn unternommen. Dre Landeskunden folgten, grö¬
ßere Werke, welche das Charakteristische in dem Leben eines bestimmten Be¬
zirkes für die verschiedenen Wissenschaften zu fixiren suchen. Nicht zuletzt für


all sichtbar; ja das Bestreben, an dem eigenen Leben zu bessern, demselben
nach allen Richtungen höhern Inhalt, größere Energie zu geben, ist gerade das
charakteristische Kennzeichen der Gegenwart im Gegensatz zur nächsten Ver¬
gangenheit geworden. Dabei hat sich auch das Verhältniß der Gebildeten
zu den kleinern Kreisen des deutschen Lebens, dem Landmann, dem Ar¬
beiter, dem kleinen Bürger umgeformt. Während man sich vor zwanzig
Jahren noch über die naturwüchsige Kraft dieser Berufsklassen wie staunend
freute, so oft unsere Novellisten dieselbe anmuthig vorzuführen wußten, ist
man jetzt mitten in der männlicheren Arbeit, die Schranken, welche den kleinen
Mann immer noch von der Bildung der Begünstigten trennen, niederzureißen,
unsere Bedürfnisse, unser Wissens, unsern Idealismus auch in sein Leben
hineinzutragen.

Wenn aber die Dorfgeschichten für uns an Werth verloren haben, so
dürfen wir doch nicht undankbar sein gegen das Gute, welches sie uns ver¬
mittelten. Es ist wahr, nur in einzelnen kam ein starkes schöpferisches Talent
oder ein liebevolles Behagen, welches auch das Kleine poetisch verklärt, zu
Tage, und wir fürchten, daß unsere Nachkommen über den dichterischen Werth
dieses Genre ohne die Vorliebe urtheilen werden, welche noch uns anhängt.
Aber dieser Zweig der deutscheu Literatur hat unzweifelhaft das große Verdienst,
ein lebendiges Interesse an den Zuständen des Volkes in weiten Kreisen angeregt
zu haben. Tausenden kam zum Bewußsein, daß im Leben des Landmanns und des
kleinen Arbeiters die gute unverwüstliche deutsche Natur sich noch sehr eigenthümlich
offenbare. Der sociale Reformator, ja selbst die Staatsregierungen gewannen
neue Gesichtspunkte für Beurtheilung einheimischer, lange nicht beachteter Ver¬
hältnisse. Aber auch die deutsche Wissenschaft blickte jetzt mit schärferem Auge
auf einheimische Zustände, in denen sich Uraltes und höchst Charakteristisches
bis zur Gegenwart erhalten hat. Man hatte schon früher begonnen die alten
Traditionen in Liedern und Sagen, in Sprache, Gebräuchen, in Festen und
Feierlichkeiten, in der Dorsflur und dem Hausbau des Landmanns zu sammeln
und zusammenzutragen. Jetzt wurde der Eifer allgemein. Man hatte schon
früher die Landschaft und die natürlichen Bedingungen, unter denen das Land¬
volk der einzelnen Stämme seine Eigenthümlichkeit entwickelte, beobachtet.
Jetzt begann man überall die Physiognomie der verschiedenen Gegenden, Bodcn-
cultur, altheimische Industrie mit Liebe und Geschick darzustellen. Die reiche
Literatur des Landes und der Leute wurde durch die Freude an den Dorfge¬
schichten wesentlich gefördert. Häusig blieb sie Dilettantenarbeit, welche
mehr Unterhaltung als Belehrung bezweckte, aber oft wurde sie in ern¬
stem wissenschaftlichem Sinn unternommen. Dre Landeskunden folgten, grö¬
ßere Werke, welche das Charakteristische in dem Leben eines bestimmten Be¬
zirkes für die verschiedenen Wissenschaften zu fixiren suchen. Nicht zuletzt für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/260>, abgerufen am 09.05.2024.