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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Wer also unbefangen den Grad der Einsicht, die Parteibildung und die
Charaktere abschätzt, welche seit 14 Jahren die Auffassung der deutschen Frage
verändert haben, der wird sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß sie durchaus
nicht Rückschritte gemacht hat. Außer den Politikern, welche die große Schule
von 1848 in der Majorität des Frankfurter Parlaments durchgekämpft haben, sind
jüngere Kräfte in den Kampf getreten, so außerhalb Preußens die souveraine
von Baden. Weimar. Gotha; Minister, wie Watzdorf. Seebach. Noggenbacb.
nicht zuletzt die Führer des Nationalvereins. Auch in den Kammern der ein¬
zelnen Staaten ist die Partei der Unitarier fast mit jeder Sitzung stärker ge¬
worden, außer in Hessen-Kassel auch in Nassau. Darmstadt und Hannover, sie
ist sogar in Baiern, Schwaben und Sachsen organisitt, wo sie vor wenig Jah¬
ren kaum einen Vertreter zählte.

Freilich wird noch mancher Tropfen deutschen Wassers ins Meer hinab¬
rinnen, bis zu der Erkenntniß des Wünschonswcrthen und zu dem guten Wil¬
len auch das kommt, was der deutschen Natur vorzugsweise die Energie gibt,
Begeisterung und ein heftiger Zorn. Aber wir lassen uns solche Eigen¬
thümlichkeit unsers Wesens, welche das Ausland den Deutschen grade jetzt
nicht ohne Spott vorhält, sehr gern gefallen, denn wir finden darin sowohl
einen besonderen Vorzug unserer Natur, als eine Bürgschaft dauerhafter Bes¬
serung. Der Weg, auf welchem wir Deutsche uns seit zwei Jahrhunderten aus der
Vernichtung hervorgearbeitet haben, hat uns allerdings die Neigung zurückge¬
lassen, unsern Standpunkt in jedem Augenblicke mit einer behaglichen Brette
auseinanderzusetzen und in dialektischen Processen, welche in der Politik Noten,
Kammerreden und Journalartikel heißen, vor unseren Gegnern darzustellen.
Daß Wir darüber aber nicht die Fähigkeit verloren haben, im entscheidenden
Augenblick, mit Hintenansetzung unserer Persönlichkeit, etwas zu wagen, das
haben wir in diesem Jahrhundert, seit den fünfzig Jahren, wo wir uns wie¬
der als Nation empfinden, im Guten und Schlimmen mehr als einmal bewiesen.

Die deutsche Frage aber ist am wenigsten eine solche, welche durch Ber-
serkcrthum und heftigen Anlauf entschieden werden kann. Immer wieder soll
gesagt werden, daß wir, im Großen betrachtet, durchaus nicht in der Lage
der Italiener sind, unerträgliche Mißregieruug oder fremde Herrschaft abzu¬
schütteln. Wir wollen nur angestammten Regierungen, mit denen ihre Volker
zum großen Theil fest veiwachsen sind, die Ueberzeugung mittheilen, wie es
für sie selbst, für ihre Kraft und Dauer, und was uns allerdings noch wich¬
tiger ist. für das Wohl ihrer Völker und der deutschen Nation nothwendig
wird, daß sie einzelne Privilegien der Souveränität zum Besten des Ganzen
abgeben. Und wir sind trotz allen Noten und trotz dem heftigen Widerwillen,
welchen sie jetzt gegen einen Anschluß an Preußen empfinden, durchaus nicht
in der Lage, die Hoffnung auf friedliche Beseitigung der Gegensätze aufzugeben.


Wer also unbefangen den Grad der Einsicht, die Parteibildung und die
Charaktere abschätzt, welche seit 14 Jahren die Auffassung der deutschen Frage
verändert haben, der wird sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß sie durchaus
nicht Rückschritte gemacht hat. Außer den Politikern, welche die große Schule
von 1848 in der Majorität des Frankfurter Parlaments durchgekämpft haben, sind
jüngere Kräfte in den Kampf getreten, so außerhalb Preußens die souveraine
von Baden. Weimar. Gotha; Minister, wie Watzdorf. Seebach. Noggenbacb.
nicht zuletzt die Führer des Nationalvereins. Auch in den Kammern der ein¬
zelnen Staaten ist die Partei der Unitarier fast mit jeder Sitzung stärker ge¬
worden, außer in Hessen-Kassel auch in Nassau. Darmstadt und Hannover, sie
ist sogar in Baiern, Schwaben und Sachsen organisitt, wo sie vor wenig Jah¬
ren kaum einen Vertreter zählte.

Freilich wird noch mancher Tropfen deutschen Wassers ins Meer hinab¬
rinnen, bis zu der Erkenntniß des Wünschonswcrthen und zu dem guten Wil¬
len auch das kommt, was der deutschen Natur vorzugsweise die Energie gibt,
Begeisterung und ein heftiger Zorn. Aber wir lassen uns solche Eigen¬
thümlichkeit unsers Wesens, welche das Ausland den Deutschen grade jetzt
nicht ohne Spott vorhält, sehr gern gefallen, denn wir finden darin sowohl
einen besonderen Vorzug unserer Natur, als eine Bürgschaft dauerhafter Bes¬
serung. Der Weg, auf welchem wir Deutsche uns seit zwei Jahrhunderten aus der
Vernichtung hervorgearbeitet haben, hat uns allerdings die Neigung zurückge¬
lassen, unsern Standpunkt in jedem Augenblicke mit einer behaglichen Brette
auseinanderzusetzen und in dialektischen Processen, welche in der Politik Noten,
Kammerreden und Journalartikel heißen, vor unseren Gegnern darzustellen.
Daß Wir darüber aber nicht die Fähigkeit verloren haben, im entscheidenden
Augenblick, mit Hintenansetzung unserer Persönlichkeit, etwas zu wagen, das
haben wir in diesem Jahrhundert, seit den fünfzig Jahren, wo wir uns wie¬
der als Nation empfinden, im Guten und Schlimmen mehr als einmal bewiesen.

Die deutsche Frage aber ist am wenigsten eine solche, welche durch Ber-
serkcrthum und heftigen Anlauf entschieden werden kann. Immer wieder soll
gesagt werden, daß wir, im Großen betrachtet, durchaus nicht in der Lage
der Italiener sind, unerträgliche Mißregieruug oder fremde Herrschaft abzu¬
schütteln. Wir wollen nur angestammten Regierungen, mit denen ihre Volker
zum großen Theil fest veiwachsen sind, die Ueberzeugung mittheilen, wie es
für sie selbst, für ihre Kraft und Dauer, und was uns allerdings noch wich¬
tiger ist. für das Wohl ihrer Völker und der deutschen Nation nothwendig
wird, daß sie einzelne Privilegien der Souveränität zum Besten des Ganzen
abgeben. Und wir sind trotz allen Noten und trotz dem heftigen Widerwillen,
welchen sie jetzt gegen einen Anschluß an Preußen empfinden, durchaus nicht
in der Lage, die Hoffnung auf friedliche Beseitigung der Gegensätze aufzugeben.


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[0333] Wer also unbefangen den Grad der Einsicht, die Parteibildung und die Charaktere abschätzt, welche seit 14 Jahren die Auffassung der deutschen Frage verändert haben, der wird sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß sie durchaus nicht Rückschritte gemacht hat. Außer den Politikern, welche die große Schule von 1848 in der Majorität des Frankfurter Parlaments durchgekämpft haben, sind jüngere Kräfte in den Kampf getreten, so außerhalb Preußens die souveraine von Baden. Weimar. Gotha; Minister, wie Watzdorf. Seebach. Noggenbacb. nicht zuletzt die Führer des Nationalvereins. Auch in den Kammern der ein¬ zelnen Staaten ist die Partei der Unitarier fast mit jeder Sitzung stärker ge¬ worden, außer in Hessen-Kassel auch in Nassau. Darmstadt und Hannover, sie ist sogar in Baiern, Schwaben und Sachsen organisitt, wo sie vor wenig Jah¬ ren kaum einen Vertreter zählte. Freilich wird noch mancher Tropfen deutschen Wassers ins Meer hinab¬ rinnen, bis zu der Erkenntniß des Wünschonswcrthen und zu dem guten Wil¬ len auch das kommt, was der deutschen Natur vorzugsweise die Energie gibt, Begeisterung und ein heftiger Zorn. Aber wir lassen uns solche Eigen¬ thümlichkeit unsers Wesens, welche das Ausland den Deutschen grade jetzt nicht ohne Spott vorhält, sehr gern gefallen, denn wir finden darin sowohl einen besonderen Vorzug unserer Natur, als eine Bürgschaft dauerhafter Bes¬ serung. Der Weg, auf welchem wir Deutsche uns seit zwei Jahrhunderten aus der Vernichtung hervorgearbeitet haben, hat uns allerdings die Neigung zurückge¬ lassen, unsern Standpunkt in jedem Augenblicke mit einer behaglichen Brette auseinanderzusetzen und in dialektischen Processen, welche in der Politik Noten, Kammerreden und Journalartikel heißen, vor unseren Gegnern darzustellen. Daß Wir darüber aber nicht die Fähigkeit verloren haben, im entscheidenden Augenblick, mit Hintenansetzung unserer Persönlichkeit, etwas zu wagen, das haben wir in diesem Jahrhundert, seit den fünfzig Jahren, wo wir uns wie¬ der als Nation empfinden, im Guten und Schlimmen mehr als einmal bewiesen. Die deutsche Frage aber ist am wenigsten eine solche, welche durch Ber- serkcrthum und heftigen Anlauf entschieden werden kann. Immer wieder soll gesagt werden, daß wir, im Großen betrachtet, durchaus nicht in der Lage der Italiener sind, unerträgliche Mißregieruug oder fremde Herrschaft abzu¬ schütteln. Wir wollen nur angestammten Regierungen, mit denen ihre Volker zum großen Theil fest veiwachsen sind, die Ueberzeugung mittheilen, wie es für sie selbst, für ihre Kraft und Dauer, und was uns allerdings noch wich¬ tiger ist. für das Wohl ihrer Völker und der deutschen Nation nothwendig wird, daß sie einzelne Privilegien der Souveränität zum Besten des Ganzen abgeben. Und wir sind trotz allen Noten und trotz dem heftigen Widerwillen, welchen sie jetzt gegen einen Anschluß an Preußen empfinden, durchaus nicht in der Lage, die Hoffnung auf friedliche Beseitigung der Gegensätze aufzugeben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/333>, abgerufen am 26.05.2024.