Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dert Boote und Barken sowie einige Dampfer. Rechts und links von der
regsamen Stadt erheben sich von dem rothen Thonboden zwei Hügel. Auf
dem einen glänzen mit ihren bemalten Wänden und ihren Goldkuppeln
die Kirchen eines Klosters, auf dem andern steht, einst ein Prachtbau, jetzt
halb Ruine, das Schloß des ehemaligen Fürsten von Zaboria. Der verlasse"",
verfallene Palast "scheint Blicke mit dem Kloster auszutauschen, als ob diese
alten Gemäuer sich über den Lärm zu ihren Füßen unterhielten und die gute
alte Zeit beklagten, wo alles Leben und alle Lust auf den Höhen war und
in dem Städtchen drunten Niemand laut zu sprechen wagte."

Der Reisende läßt sich vom Dorsrichter durch das Schloß und dessen jetzt
zur Wildniß gewordenen Garten führen. In letzterem sagt der Führer, auf
einen Haufen von Ziegeln zeigend: "Das war früher ein Pavillon, aber Fürst
Daniel Borisowitsch ließ ihn vor dreißig Jahren niederreißen, weil er etwas
darin fand, was ihm nicht gesiel."

"Was war das?" fragt der Reisende.

"Ich weiß es nicht", antwortet der Richter, "aber es heißt, daß hier
allerhand schlimme Dinge vorgefallen sind. Die Leute, die das erlebt, sind
alle todt, aber es soll ein Bericht darüber vorhanden sein, den einer von den
Kellermeistern des Fürsten aufgeschrieben hat."

Der Reisende spürt, nachdem er das Innere des Schlosses besichtigt, je-
nen Manuscript nach und gelangt glücklich in dessen Besitz. Es ist eine Er¬
zählung von dem Thun und Treiben des Fürsten Alexis Juriwitsch in der
"guten alten Zeit", niedergeschrieben nach den Mittheilungen eines fast hun-
dertjährigen Bauers von dem Schloßverwalter des Enkels dieses Alexis im
Jahre 1322. Pecherski sagt darüber: Alexis Juriwitsch war der Typus eines
russischen Adelichen kurz nach der Zeit Peter's des Großen, wo die Bojaren
den Luxus und die Laster des Westens mit ihrer eingebornen Gesetzverachtung
und Brutalität zu verbinden anfingen. Alexis hatte an Peter's Hof gelebt und
selbst den Stock des großen Reformators gefühlt. Er hatte in Petersburg
das wildeste und schandbarste Leben geführt und sich unter Elisabeth i" poli¬
tische Umtriebe eingelassen, die ihn endlich zum freiwilligen Rückzug nach Za¬
bona vermochten. Wo er die bisherigen Thorheiten und Schlechtigkeiten in et¬
was anderm Styl fortsetzte und sich gewöhnte, kein anderes Gesetz als sein
Belieben anzuerkennen. Zuletzt erreichten die Teufeleien dieses Halbbarbaren
einen solchen Grad von Niederträchtigkeit, daß, wie der Verfasser meint, "sein
Leben uns Menschen des neunzehnten Jahrhunderts wie die Vision eines in
Unordnung gcrathnen Gehirns erscheint." "Selbst in den Wäldern von Ja-
kutsk existirt keine solche Mißachtung göttlicher und menschlicher Gebote, wie
während der ersten Hälfte des letztverflossenen Jahrhunderts in Rußland."

Der alte Bauer, welcher das erwähnte Manuscript dictirt hat, denkt frei-


dert Boote und Barken sowie einige Dampfer. Rechts und links von der
regsamen Stadt erheben sich von dem rothen Thonboden zwei Hügel. Auf
dem einen glänzen mit ihren bemalten Wänden und ihren Goldkuppeln
die Kirchen eines Klosters, auf dem andern steht, einst ein Prachtbau, jetzt
halb Ruine, das Schloß des ehemaligen Fürsten von Zaboria. Der verlasse»»,
verfallene Palast „scheint Blicke mit dem Kloster auszutauschen, als ob diese
alten Gemäuer sich über den Lärm zu ihren Füßen unterhielten und die gute
alte Zeit beklagten, wo alles Leben und alle Lust auf den Höhen war und
in dem Städtchen drunten Niemand laut zu sprechen wagte."

Der Reisende läßt sich vom Dorsrichter durch das Schloß und dessen jetzt
zur Wildniß gewordenen Garten führen. In letzterem sagt der Führer, auf
einen Haufen von Ziegeln zeigend: „Das war früher ein Pavillon, aber Fürst
Daniel Borisowitsch ließ ihn vor dreißig Jahren niederreißen, weil er etwas
darin fand, was ihm nicht gesiel."

„Was war das?" fragt der Reisende.

„Ich weiß es nicht", antwortet der Richter, „aber es heißt, daß hier
allerhand schlimme Dinge vorgefallen sind. Die Leute, die das erlebt, sind
alle todt, aber es soll ein Bericht darüber vorhanden sein, den einer von den
Kellermeistern des Fürsten aufgeschrieben hat."

Der Reisende spürt, nachdem er das Innere des Schlosses besichtigt, je-
nen Manuscript nach und gelangt glücklich in dessen Besitz. Es ist eine Er¬
zählung von dem Thun und Treiben des Fürsten Alexis Juriwitsch in der
„guten alten Zeit", niedergeschrieben nach den Mittheilungen eines fast hun-
dertjährigen Bauers von dem Schloßverwalter des Enkels dieses Alexis im
Jahre 1322. Pecherski sagt darüber: Alexis Juriwitsch war der Typus eines
russischen Adelichen kurz nach der Zeit Peter's des Großen, wo die Bojaren
den Luxus und die Laster des Westens mit ihrer eingebornen Gesetzverachtung
und Brutalität zu verbinden anfingen. Alexis hatte an Peter's Hof gelebt und
selbst den Stock des großen Reformators gefühlt. Er hatte in Petersburg
das wildeste und schandbarste Leben geführt und sich unter Elisabeth i» poli¬
tische Umtriebe eingelassen, die ihn endlich zum freiwilligen Rückzug nach Za¬
bona vermochten. Wo er die bisherigen Thorheiten und Schlechtigkeiten in et¬
was anderm Styl fortsetzte und sich gewöhnte, kein anderes Gesetz als sein
Belieben anzuerkennen. Zuletzt erreichten die Teufeleien dieses Halbbarbaren
einen solchen Grad von Niederträchtigkeit, daß, wie der Verfasser meint, „sein
Leben uns Menschen des neunzehnten Jahrhunderts wie die Vision eines in
Unordnung gcrathnen Gehirns erscheint." „Selbst in den Wäldern von Ja-
kutsk existirt keine solche Mißachtung göttlicher und menschlicher Gebote, wie
während der ersten Hälfte des letztverflossenen Jahrhunderts in Rußland."

Der alte Bauer, welcher das erwähnte Manuscript dictirt hat, denkt frei-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0423" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/113665"/>
          <p xml:id="ID_1303" prev="#ID_1302"> dert Boote und Barken sowie einige Dampfer. Rechts und links von der<lb/>
regsamen Stadt erheben sich von dem rothen Thonboden zwei Hügel. Auf<lb/>
dem einen glänzen mit ihren bemalten Wänden und ihren Goldkuppeln<lb/>
die Kirchen eines Klosters, auf dem andern steht, einst ein Prachtbau, jetzt<lb/>
halb Ruine, das Schloß des ehemaligen Fürsten von Zaboria. Der verlasse»»,<lb/>
verfallene Palast &#x201E;scheint Blicke mit dem Kloster auszutauschen, als ob diese<lb/>
alten Gemäuer sich über den Lärm zu ihren Füßen unterhielten und die gute<lb/>
alte Zeit beklagten, wo alles Leben und alle Lust auf den Höhen war und<lb/>
in dem Städtchen drunten Niemand laut zu sprechen wagte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1304"> Der Reisende läßt sich vom Dorsrichter durch das Schloß und dessen jetzt<lb/>
zur Wildniß gewordenen Garten führen. In letzterem sagt der Führer, auf<lb/>
einen Haufen von Ziegeln zeigend: &#x201E;Das war früher ein Pavillon, aber Fürst<lb/>
Daniel Borisowitsch ließ ihn vor dreißig Jahren niederreißen, weil er etwas<lb/>
darin fand, was ihm nicht gesiel."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1305"> &#x201E;Was war das?" fragt der Reisende.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1306"> &#x201E;Ich weiß es nicht", antwortet der Richter, &#x201E;aber es heißt, daß hier<lb/>
allerhand schlimme Dinge vorgefallen sind. Die Leute, die das erlebt, sind<lb/>
alle todt, aber es soll ein Bericht darüber vorhanden sein, den einer von den<lb/>
Kellermeistern des Fürsten aufgeschrieben hat."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1307"> Der Reisende spürt, nachdem er das Innere des Schlosses besichtigt, je-<lb/>
nen Manuscript nach und gelangt glücklich in dessen Besitz. Es ist eine Er¬<lb/>
zählung von dem Thun und Treiben des Fürsten Alexis Juriwitsch in der<lb/>
&#x201E;guten alten Zeit", niedergeschrieben nach den Mittheilungen eines fast hun-<lb/>
dertjährigen Bauers von dem Schloßverwalter des Enkels dieses Alexis im<lb/>
Jahre 1322. Pecherski sagt darüber: Alexis Juriwitsch war der Typus eines<lb/>
russischen Adelichen kurz nach der Zeit Peter's des Großen, wo die Bojaren<lb/>
den Luxus und die Laster des Westens mit ihrer eingebornen Gesetzverachtung<lb/>
und Brutalität zu verbinden anfingen. Alexis hatte an Peter's Hof gelebt und<lb/>
selbst den Stock des großen Reformators gefühlt. Er hatte in Petersburg<lb/>
das wildeste und schandbarste Leben geführt und sich unter Elisabeth i» poli¬<lb/>
tische Umtriebe eingelassen, die ihn endlich zum freiwilligen Rückzug nach Za¬<lb/>
bona vermochten. Wo er die bisherigen Thorheiten und Schlechtigkeiten in et¬<lb/>
was anderm Styl fortsetzte und sich gewöhnte, kein anderes Gesetz als sein<lb/>
Belieben anzuerkennen. Zuletzt erreichten die Teufeleien dieses Halbbarbaren<lb/>
einen solchen Grad von Niederträchtigkeit, daß, wie der Verfasser meint, &#x201E;sein<lb/>
Leben uns Menschen des neunzehnten Jahrhunderts wie die Vision eines in<lb/>
Unordnung gcrathnen Gehirns erscheint." &#x201E;Selbst in den Wäldern von Ja-<lb/>
kutsk existirt keine solche Mißachtung göttlicher und menschlicher Gebote, wie<lb/>
während der ersten Hälfte des letztverflossenen Jahrhunderts in Rußland."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1308" next="#ID_1309"> Der alte Bauer, welcher das erwähnte Manuscript dictirt hat, denkt frei-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0423] dert Boote und Barken sowie einige Dampfer. Rechts und links von der regsamen Stadt erheben sich von dem rothen Thonboden zwei Hügel. Auf dem einen glänzen mit ihren bemalten Wänden und ihren Goldkuppeln die Kirchen eines Klosters, auf dem andern steht, einst ein Prachtbau, jetzt halb Ruine, das Schloß des ehemaligen Fürsten von Zaboria. Der verlasse»», verfallene Palast „scheint Blicke mit dem Kloster auszutauschen, als ob diese alten Gemäuer sich über den Lärm zu ihren Füßen unterhielten und die gute alte Zeit beklagten, wo alles Leben und alle Lust auf den Höhen war und in dem Städtchen drunten Niemand laut zu sprechen wagte." Der Reisende läßt sich vom Dorsrichter durch das Schloß und dessen jetzt zur Wildniß gewordenen Garten führen. In letzterem sagt der Führer, auf einen Haufen von Ziegeln zeigend: „Das war früher ein Pavillon, aber Fürst Daniel Borisowitsch ließ ihn vor dreißig Jahren niederreißen, weil er etwas darin fand, was ihm nicht gesiel." „Was war das?" fragt der Reisende. „Ich weiß es nicht", antwortet der Richter, „aber es heißt, daß hier allerhand schlimme Dinge vorgefallen sind. Die Leute, die das erlebt, sind alle todt, aber es soll ein Bericht darüber vorhanden sein, den einer von den Kellermeistern des Fürsten aufgeschrieben hat." Der Reisende spürt, nachdem er das Innere des Schlosses besichtigt, je- nen Manuscript nach und gelangt glücklich in dessen Besitz. Es ist eine Er¬ zählung von dem Thun und Treiben des Fürsten Alexis Juriwitsch in der „guten alten Zeit", niedergeschrieben nach den Mittheilungen eines fast hun- dertjährigen Bauers von dem Schloßverwalter des Enkels dieses Alexis im Jahre 1322. Pecherski sagt darüber: Alexis Juriwitsch war der Typus eines russischen Adelichen kurz nach der Zeit Peter's des Großen, wo die Bojaren den Luxus und die Laster des Westens mit ihrer eingebornen Gesetzverachtung und Brutalität zu verbinden anfingen. Alexis hatte an Peter's Hof gelebt und selbst den Stock des großen Reformators gefühlt. Er hatte in Petersburg das wildeste und schandbarste Leben geführt und sich unter Elisabeth i» poli¬ tische Umtriebe eingelassen, die ihn endlich zum freiwilligen Rückzug nach Za¬ bona vermochten. Wo er die bisherigen Thorheiten und Schlechtigkeiten in et¬ was anderm Styl fortsetzte und sich gewöhnte, kein anderes Gesetz als sein Belieben anzuerkennen. Zuletzt erreichten die Teufeleien dieses Halbbarbaren einen solchen Grad von Niederträchtigkeit, daß, wie der Verfasser meint, „sein Leben uns Menschen des neunzehnten Jahrhunderts wie die Vision eines in Unordnung gcrathnen Gehirns erscheint." „Selbst in den Wäldern von Ja- kutsk existirt keine solche Mißachtung göttlicher und menschlicher Gebote, wie während der ersten Hälfte des letztverflossenen Jahrhunderts in Rußland." Der alte Bauer, welcher das erwähnte Manuscript dictirt hat, denkt frei-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/423
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/423>, abgerufen am 11.05.2024.