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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Entwicklungsstufe der Kunstbildung des Alterthums und nimmt im Kreise der
gleichnamigen und verwandten Werke eine feste Stellung ein. Nicht willkürlich
und zufällig hat sich diese Auffassungsweise in den letzten Menschenaltern her¬
ausgebildet, der ganze Zug, die Richtung unserer Bildung hat sie erschaffen
daher auch der Versuch jedes Einzelnen, sich der Herrschaft derselben zu entziehen
und das Verhältniß, in welchem die Renaissance, zum Alterthum stand, wieder
herzustellen, ein vergeblicher und erfolgloser sein wird.

Versuche es doch heutigen Tages Jemand und gehe an den Genuß des
hellenischen Tempels in der Weise, wie Brunelleschi und Alberti die antike
Architektur genossen haben, labe sich allein und ausschließlich an den Rhythmen
und Harmonien der einzelnen und vereinzelten Glieder. Unwillkürlich werden
sich ihm die einzelnen Theile zur Cultusstätte der Griechen zusammenschließen,
die materiellen Functionen der Glieder gegenwärtig werden, die inhaltliche
Bedeutung des Ganzen seine Aufmerksamkeit fesseln. Und wenn wir ein plastisches
Werk betrachten, gewiß können wir auch unsere Fvrmsreude an der Betrachtung
vollkommen befriedigen, aber außerdem werden sich mit Nothwendigkeit noch
andere Gesichtspunkte herandrängen und Beachtung verlangen, welche, was
der Renaissance eine reine Augenweide war, in einen Gegenstand wissenschaft¬
lichen Begreifens verwandeln. Die Antike ist für uns nicht mehr Leib von unserem
Leibe und daher ist ein reiner Genuß derselben, eine unmittelbare Verwerthung
derselben für die Kunstschöpfung unmöglich. An dem Zwiespalte, daß- die Antike
in sich beschlossen sei und nichts Fremdes, auch nicht die leiseste Abweichung
dulde und daß auf der anderen Seite jede künstlerische Schöpfung, doch bis zu
einem gewissen Grade ein selbständiges Vorgehen der Phantasie voraussetzt,
müssen alle Künstler, die die Auffassung der Renaissance neu beleben möchten,
verderben.

Wenn auch das köstliche Schauspiel, das uns die Renaissancekunst bietet,
schwerlich in unseren Tagen wiederkehren wird und die Antike die unmittelbare
Einwirkung aus die einzelnen Werke der bildenden Kunst kaum wieder erlangen
kann- der Einfluß, den die Antike aus die ästhetische Bildung im Allgemeinen
ausüben kann, ja ausüben soll und muß, wird dadurch nicht verringert. In
der Läuterung der ästhetischen Urtheile und Ideen scheint uns der Hauptwerth
zu liegen, welchen das Studium der Antike sür unsere Gegenwart und Zukunft
besitzt. Die absolute Werthschätzung der Antike in unserer Anschauung, das-
Bewußtsein. daß in der classischen Zeit alle Bedingungen zusammentreffen, um
die künstlerischen Schöpfungen der höchsten Vollendung entgeg.enzuführen, macht
es möglich, daß wir an der Antike erproben, was sür die Schönheit des ein¬
zelnen Werkes mustergiltig ist, und die Gesetze erkennen, deren. Beobachtung
die Gesundheit eines dauernden Kunstlebens bestimmt. Die, ästhetische Bildung
des Volkes wird unleugbar bei einer solchen Auffassung der Antike gewinnen-


Entwicklungsstufe der Kunstbildung des Alterthums und nimmt im Kreise der
gleichnamigen und verwandten Werke eine feste Stellung ein. Nicht willkürlich
und zufällig hat sich diese Auffassungsweise in den letzten Menschenaltern her¬
ausgebildet, der ganze Zug, die Richtung unserer Bildung hat sie erschaffen
daher auch der Versuch jedes Einzelnen, sich der Herrschaft derselben zu entziehen
und das Verhältniß, in welchem die Renaissance, zum Alterthum stand, wieder
herzustellen, ein vergeblicher und erfolgloser sein wird.

Versuche es doch heutigen Tages Jemand und gehe an den Genuß des
hellenischen Tempels in der Weise, wie Brunelleschi und Alberti die antike
Architektur genossen haben, labe sich allein und ausschließlich an den Rhythmen
und Harmonien der einzelnen und vereinzelten Glieder. Unwillkürlich werden
sich ihm die einzelnen Theile zur Cultusstätte der Griechen zusammenschließen,
die materiellen Functionen der Glieder gegenwärtig werden, die inhaltliche
Bedeutung des Ganzen seine Aufmerksamkeit fesseln. Und wenn wir ein plastisches
Werk betrachten, gewiß können wir auch unsere Fvrmsreude an der Betrachtung
vollkommen befriedigen, aber außerdem werden sich mit Nothwendigkeit noch
andere Gesichtspunkte herandrängen und Beachtung verlangen, welche, was
der Renaissance eine reine Augenweide war, in einen Gegenstand wissenschaft¬
lichen Begreifens verwandeln. Die Antike ist für uns nicht mehr Leib von unserem
Leibe und daher ist ein reiner Genuß derselben, eine unmittelbare Verwerthung
derselben für die Kunstschöpfung unmöglich. An dem Zwiespalte, daß- die Antike
in sich beschlossen sei und nichts Fremdes, auch nicht die leiseste Abweichung
dulde und daß auf der anderen Seite jede künstlerische Schöpfung, doch bis zu
einem gewissen Grade ein selbständiges Vorgehen der Phantasie voraussetzt,
müssen alle Künstler, die die Auffassung der Renaissance neu beleben möchten,
verderben.

Wenn auch das köstliche Schauspiel, das uns die Renaissancekunst bietet,
schwerlich in unseren Tagen wiederkehren wird und die Antike die unmittelbare
Einwirkung aus die einzelnen Werke der bildenden Kunst kaum wieder erlangen
kann- der Einfluß, den die Antike aus die ästhetische Bildung im Allgemeinen
ausüben kann, ja ausüben soll und muß, wird dadurch nicht verringert. In
der Läuterung der ästhetischen Urtheile und Ideen scheint uns der Hauptwerth
zu liegen, welchen das Studium der Antike sür unsere Gegenwart und Zukunft
besitzt. Die absolute Werthschätzung der Antike in unserer Anschauung, das-
Bewußtsein. daß in der classischen Zeit alle Bedingungen zusammentreffen, um
die künstlerischen Schöpfungen der höchsten Vollendung entgeg.enzuführen, macht
es möglich, daß wir an der Antike erproben, was sür die Schönheit des ein¬
zelnen Werkes mustergiltig ist, und die Gesetze erkennen, deren. Beobachtung
die Gesundheit eines dauernden Kunstlebens bestimmt. Die, ästhetische Bildung
des Volkes wird unleugbar bei einer solchen Auffassung der Antike gewinnen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/506>, abgerufen am 12.05.2024.