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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Urzeit des volksthümlichen Schaffens zunimmt. Wir sind gerade bei epischer
Poesie schon jetzt im Stande, an den verschiedenen Völkern ehr abweichende
Redactionsweisen zu erkennen.

Bei den Serben sind uns die epischen Volkslieder so erhalten, wie sie
von den einzelnen Sängern zur Gusle recitirt worden sind, dort sind die Ge¬
sänge des alinationalen Sagenhelden, des Königssohns Marko, durch keinen
spätern Rcdactor zu einem Ganzen verbunden, ja einzelne derselben sind uns
mehremal, aus dem Munde verschiedener Sänger, aufgezeichnet. Grade die ver-
hältnißmäßige Armuth und Eintönigkeit der serbischen Volkspoesie macht den
Vergleich mit andern Volksepen sehr lehrreich. (5s ist deutlich zu erkennen,
wie weit die lebendige Tradition der Sage noch jetzt die einzelnen Sänger beherrscht
und welche Freiheiten sie ihnen gewährt, ferner auch, wie sich doch über den einzel¬
nen Gesängen der epische Zusammenhang der Sage erhält. Fast noch lehrreicher
als die serbischen Lieder ist das große finnische Epos Kalvala, dessen einzelne Gesänge
erst in unsrer Zeit aus dem Munde des Volkes gesammelt, als ein Ganzes an¬
einandergereiht und mit einem gemeinsamen Namen versehen wurden. Zu diesen
epischen Ueberlieferungen in Einzellicdern bildet den stärksten Gegensatz das
große Sammelwerk des Persers Firdusi; dort ist althcimischer Sagenstoff, der
von alten Sängern und wahrscheinlich auch durch frühere Ncdactoren zu einer
Anzahl größerer Gedichte zusammengeschlossen war, in verhältnißmämg später
Zeit bei ganz veränderten Culturverhällnisscn unter der Herrschaft arabischer
Bildung und Sprache von einem gebildeten Hofsängcr überarbeitet und zu
einem unförmlichen Werke zusammengeschweißt worden. Eine weit andere,
ältere Verbindung massenhaften epischen Materials stellen wieder die großen
Sammelwerke der Inder, Mahabharata und Ramajana, dar, aus denen zahlreiche
ältere Dichtungen mühelos ausgeschieden werden können. Zwischen den Ser¬
benliedern und der Methode der Hindus sind die Ueberreste neidischer Poesie
einzureihen, welche lange von einer geschlossenen Dichterzunft fortgepflanzt wur¬
den, dann die Sagenbildung und epische Dichtung der Romanen im Mittelalter'
endlich die zahlreichen epischen Poesien der Germanen und zuletzt die homeri¬
schen Gesänge. -- Wer jetzt die Frage über Ursprung und Umbildung der epischen
Dichtungen fördern will, der hat zunächst die Aufgabe, in eingehender Forschung
die verschiedenen Epen der fremden Völker mit einander zu vergleichen, und aus
dem Gemeinsamen und Besondern ihrer Redaction, aus ihrer Composition und
dem Grade ihrer Entfernung von der schöpferischen Epenzcit Schlüsse auf Griechi¬
sches und Deutsches zu ziehen. Er wird gut thun, dabei auch aus den epischen
Vers Rücksicht zu nehmen und die Gesetze zu suchen, nach denen derselbe aus
den Volksseelen'quillt, überall je zwei poetische Sätze durch Parallelismus,
Klang. Rhythmus zusammenbindend




Grenzboten II. 1862.

Urzeit des volksthümlichen Schaffens zunimmt. Wir sind gerade bei epischer
Poesie schon jetzt im Stande, an den verschiedenen Völkern ehr abweichende
Redactionsweisen zu erkennen.

Bei den Serben sind uns die epischen Volkslieder so erhalten, wie sie
von den einzelnen Sängern zur Gusle recitirt worden sind, dort sind die Ge¬
sänge des alinationalen Sagenhelden, des Königssohns Marko, durch keinen
spätern Rcdactor zu einem Ganzen verbunden, ja einzelne derselben sind uns
mehremal, aus dem Munde verschiedener Sänger, aufgezeichnet. Grade die ver-
hältnißmäßige Armuth und Eintönigkeit der serbischen Volkspoesie macht den
Vergleich mit andern Volksepen sehr lehrreich. (5s ist deutlich zu erkennen,
wie weit die lebendige Tradition der Sage noch jetzt die einzelnen Sänger beherrscht
und welche Freiheiten sie ihnen gewährt, ferner auch, wie sich doch über den einzel¬
nen Gesängen der epische Zusammenhang der Sage erhält. Fast noch lehrreicher
als die serbischen Lieder ist das große finnische Epos Kalvala, dessen einzelne Gesänge
erst in unsrer Zeit aus dem Munde des Volkes gesammelt, als ein Ganzes an¬
einandergereiht und mit einem gemeinsamen Namen versehen wurden. Zu diesen
epischen Ueberlieferungen in Einzellicdern bildet den stärksten Gegensatz das
große Sammelwerk des Persers Firdusi; dort ist althcimischer Sagenstoff, der
von alten Sängern und wahrscheinlich auch durch frühere Ncdactoren zu einer
Anzahl größerer Gedichte zusammengeschlossen war, in verhältnißmämg später
Zeit bei ganz veränderten Culturverhällnisscn unter der Herrschaft arabischer
Bildung und Sprache von einem gebildeten Hofsängcr überarbeitet und zu
einem unförmlichen Werke zusammengeschweißt worden. Eine weit andere,
ältere Verbindung massenhaften epischen Materials stellen wieder die großen
Sammelwerke der Inder, Mahabharata und Ramajana, dar, aus denen zahlreiche
ältere Dichtungen mühelos ausgeschieden werden können. Zwischen den Ser¬
benliedern und der Methode der Hindus sind die Ueberreste neidischer Poesie
einzureihen, welche lange von einer geschlossenen Dichterzunft fortgepflanzt wur¬
den, dann die Sagenbildung und epische Dichtung der Romanen im Mittelalter'
endlich die zahlreichen epischen Poesien der Germanen und zuletzt die homeri¬
schen Gesänge. — Wer jetzt die Frage über Ursprung und Umbildung der epischen
Dichtungen fördern will, der hat zunächst die Aufgabe, in eingehender Forschung
die verschiedenen Epen der fremden Völker mit einander zu vergleichen, und aus
dem Gemeinsamen und Besondern ihrer Redaction, aus ihrer Composition und
dem Grade ihrer Entfernung von der schöpferischen Epenzcit Schlüsse auf Griechi¬
sches und Deutsches zu ziehen. Er wird gut thun, dabei auch aus den epischen
Vers Rücksicht zu nehmen und die Gesetze zu suchen, nach denen derselbe aus
den Volksseelen'quillt, überall je zwei poetische Sätze durch Parallelismus,
Klang. Rhythmus zusammenbindend




Grenzboten II. 1862.
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[0241] Urzeit des volksthümlichen Schaffens zunimmt. Wir sind gerade bei epischer Poesie schon jetzt im Stande, an den verschiedenen Völkern ehr abweichende Redactionsweisen zu erkennen. Bei den Serben sind uns die epischen Volkslieder so erhalten, wie sie von den einzelnen Sängern zur Gusle recitirt worden sind, dort sind die Ge¬ sänge des alinationalen Sagenhelden, des Königssohns Marko, durch keinen spätern Rcdactor zu einem Ganzen verbunden, ja einzelne derselben sind uns mehremal, aus dem Munde verschiedener Sänger, aufgezeichnet. Grade die ver- hältnißmäßige Armuth und Eintönigkeit der serbischen Volkspoesie macht den Vergleich mit andern Volksepen sehr lehrreich. (5s ist deutlich zu erkennen, wie weit die lebendige Tradition der Sage noch jetzt die einzelnen Sänger beherrscht und welche Freiheiten sie ihnen gewährt, ferner auch, wie sich doch über den einzel¬ nen Gesängen der epische Zusammenhang der Sage erhält. Fast noch lehrreicher als die serbischen Lieder ist das große finnische Epos Kalvala, dessen einzelne Gesänge erst in unsrer Zeit aus dem Munde des Volkes gesammelt, als ein Ganzes an¬ einandergereiht und mit einem gemeinsamen Namen versehen wurden. Zu diesen epischen Ueberlieferungen in Einzellicdern bildet den stärksten Gegensatz das große Sammelwerk des Persers Firdusi; dort ist althcimischer Sagenstoff, der von alten Sängern und wahrscheinlich auch durch frühere Ncdactoren zu einer Anzahl größerer Gedichte zusammengeschlossen war, in verhältnißmämg später Zeit bei ganz veränderten Culturverhällnisscn unter der Herrschaft arabischer Bildung und Sprache von einem gebildeten Hofsängcr überarbeitet und zu einem unförmlichen Werke zusammengeschweißt worden. Eine weit andere, ältere Verbindung massenhaften epischen Materials stellen wieder die großen Sammelwerke der Inder, Mahabharata und Ramajana, dar, aus denen zahlreiche ältere Dichtungen mühelos ausgeschieden werden können. Zwischen den Ser¬ benliedern und der Methode der Hindus sind die Ueberreste neidischer Poesie einzureihen, welche lange von einer geschlossenen Dichterzunft fortgepflanzt wur¬ den, dann die Sagenbildung und epische Dichtung der Romanen im Mittelalter' endlich die zahlreichen epischen Poesien der Germanen und zuletzt die homeri¬ schen Gesänge. — Wer jetzt die Frage über Ursprung und Umbildung der epischen Dichtungen fördern will, der hat zunächst die Aufgabe, in eingehender Forschung die verschiedenen Epen der fremden Völker mit einander zu vergleichen, und aus dem Gemeinsamen und Besondern ihrer Redaction, aus ihrer Composition und dem Grade ihrer Entfernung von der schöpferischen Epenzcit Schlüsse auf Griechi¬ sches und Deutsches zu ziehen. Er wird gut thun, dabei auch aus den epischen Vers Rücksicht zu nehmen und die Gesetze zu suchen, nach denen derselbe aus den Volksseelen'quillt, überall je zwei poetische Sätze durch Parallelismus, Klang. Rhythmus zusammenbindend Grenzboten II. 1862.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/241>, abgerufen am 18.05.2024.