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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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rischen Wissenschaften zunächst um die Beobachtung und Feststellung der Er¬
scheinungen. Solche sind aber ohne eine genaue Kenntniß der Körper, an
welchen sie sich vollziehen, gar nicht zu verwerthen. Da nun die Kenntniß der
einzelnen Organe der Untersuchung ihrer Thätigkeiten, diese der Untersuchung
der Störungen, welche die Functionen erleiden können, vorausgehen muß, so ist es
klar, wie die Anatomie die eigentliche Basis aller wissenschaftlichen Forschungen
im Gebiete der Medicin sein soll. So lehrt denn in der That die Geschichte,
daß die Fvrscbrittc der Medicin stets an die Fortschritte der Anatomie geknüpft waren,
und daß diejenigen Zeitalter, welche sich keiner anatomischen Entdeckungen zu
rühmen vermochten, auch fruchtlos für die wissenschaftliche Forschung in der
Medicin geblieben sind.

Wie die Physiologie auf der normalen, so ruht die Pathologie auf
der pathologischen Anatomie. Beide gehen aus das Innigste Hand in
Hand. Wenn aber anatomische Untersuchungen in ihrer Ausübung viel¬
seitig von dem Glauben und Aberglauben der Völker abhängen, so ist es
kein Wunder, daß gerade im Mittelalter alle Ursachen zusammentrafen, um solche
Untersuchungen zu unterdrücken. Eine Wissenschaft, die mit der Schärfe des
Messers die Schärfe des Gedankens controlirt, weiche die Nebel des Glaubens
und der Meinungen zu festen Anschauungen verdichtet, fand vor allen eifrige
Widersacher in Zeiten, in welchen der dunkle Drang nach einer gemüthlichen
Erregung alle Welt beherrschte. Die Anatomie, die wichtigste Grundlage der
Medicin, wurde im Mittelalter auf die dürftigsten Behelfe beschränkt. Dazu
kam eine andere nicht minder wichtige Ursache. Keine Erfahrungswissenschaft
kann sich ohne Gefahr dem Glauben an eine andre Autorität als die der Be¬
obachtung hingeben. Der Autoritätsglaube, indem er die eigne Untersuchung
überflüssig erscheinen läßt, greift die empirischen Wissenschaften an ihrer Wurzel
an und unterbindet ihnen d>e> Lebensadern. Ganz besonders gefährlich wird
er, wo, wie in der Medicin, die für die Wissenschaft förderliche Beobachtung
sehr complicirte Voraussetzungen hat; wo die Beobachtung am Krankenbette
erst ihre richtige Stellung erhält durch die Untersuchung an der Leiche. In der
Medicin haben von jeher alle apriorische" Theorien, alle spekulativen Systeme
den Fortschritt gehemmt, weil sie, der Bequemlichkeit eine willkommene Stütze,
die eigne Untersuchung überflüssig erscheinen ließen, und ohne Weiteres die
Beobachtung zu verwerthen gestatteten, ohne daß man sich die Mühe zu geben
brauchte, die Beobachtung selbst zu controliren. Gerade die Herrschaft eines
solchen Systems bedingte nächst den genannten Ursachen den Verfall der
Medicin im Mittelalter.

Das System Galens, des berühmten Arztes von Pergamos, war
vor allen andern dazu geeignet, zur Alleinherrschaft zu gelangen, weil es
für jede Frage eine Antwort bereit .hatte und in einer eleganten und


Grenjboten II. 1362. 52

rischen Wissenschaften zunächst um die Beobachtung und Feststellung der Er¬
scheinungen. Solche sind aber ohne eine genaue Kenntniß der Körper, an
welchen sie sich vollziehen, gar nicht zu verwerthen. Da nun die Kenntniß der
einzelnen Organe der Untersuchung ihrer Thätigkeiten, diese der Untersuchung
der Störungen, welche die Functionen erleiden können, vorausgehen muß, so ist es
klar, wie die Anatomie die eigentliche Basis aller wissenschaftlichen Forschungen
im Gebiete der Medicin sein soll. So lehrt denn in der That die Geschichte,
daß die Fvrscbrittc der Medicin stets an die Fortschritte der Anatomie geknüpft waren,
und daß diejenigen Zeitalter, welche sich keiner anatomischen Entdeckungen zu
rühmen vermochten, auch fruchtlos für die wissenschaftliche Forschung in der
Medicin geblieben sind.

Wie die Physiologie auf der normalen, so ruht die Pathologie auf
der pathologischen Anatomie. Beide gehen aus das Innigste Hand in
Hand. Wenn aber anatomische Untersuchungen in ihrer Ausübung viel¬
seitig von dem Glauben und Aberglauben der Völker abhängen, so ist es
kein Wunder, daß gerade im Mittelalter alle Ursachen zusammentrafen, um solche
Untersuchungen zu unterdrücken. Eine Wissenschaft, die mit der Schärfe des
Messers die Schärfe des Gedankens controlirt, weiche die Nebel des Glaubens
und der Meinungen zu festen Anschauungen verdichtet, fand vor allen eifrige
Widersacher in Zeiten, in welchen der dunkle Drang nach einer gemüthlichen
Erregung alle Welt beherrschte. Die Anatomie, die wichtigste Grundlage der
Medicin, wurde im Mittelalter auf die dürftigsten Behelfe beschränkt. Dazu
kam eine andere nicht minder wichtige Ursache. Keine Erfahrungswissenschaft
kann sich ohne Gefahr dem Glauben an eine andre Autorität als die der Be¬
obachtung hingeben. Der Autoritätsglaube, indem er die eigne Untersuchung
überflüssig erscheinen läßt, greift die empirischen Wissenschaften an ihrer Wurzel
an und unterbindet ihnen d>e> Lebensadern. Ganz besonders gefährlich wird
er, wo, wie in der Medicin, die für die Wissenschaft förderliche Beobachtung
sehr complicirte Voraussetzungen hat; wo die Beobachtung am Krankenbette
erst ihre richtige Stellung erhält durch die Untersuchung an der Leiche. In der
Medicin haben von jeher alle apriorische» Theorien, alle spekulativen Systeme
den Fortschritt gehemmt, weil sie, der Bequemlichkeit eine willkommene Stütze,
die eigne Untersuchung überflüssig erscheinen ließen, und ohne Weiteres die
Beobachtung zu verwerthen gestatteten, ohne daß man sich die Mühe zu geben
brauchte, die Beobachtung selbst zu controliren. Gerade die Herrschaft eines
solchen Systems bedingte nächst den genannten Ursachen den Verfall der
Medicin im Mittelalter.

Das System Galens, des berühmten Arztes von Pergamos, war
vor allen andern dazu geeignet, zur Alleinherrschaft zu gelangen, weil es
für jede Frage eine Antwort bereit .hatte und in einer eleganten und


Grenjboten II. 1362. 52
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[0417] rischen Wissenschaften zunächst um die Beobachtung und Feststellung der Er¬ scheinungen. Solche sind aber ohne eine genaue Kenntniß der Körper, an welchen sie sich vollziehen, gar nicht zu verwerthen. Da nun die Kenntniß der einzelnen Organe der Untersuchung ihrer Thätigkeiten, diese der Untersuchung der Störungen, welche die Functionen erleiden können, vorausgehen muß, so ist es klar, wie die Anatomie die eigentliche Basis aller wissenschaftlichen Forschungen im Gebiete der Medicin sein soll. So lehrt denn in der That die Geschichte, daß die Fvrscbrittc der Medicin stets an die Fortschritte der Anatomie geknüpft waren, und daß diejenigen Zeitalter, welche sich keiner anatomischen Entdeckungen zu rühmen vermochten, auch fruchtlos für die wissenschaftliche Forschung in der Medicin geblieben sind. Wie die Physiologie auf der normalen, so ruht die Pathologie auf der pathologischen Anatomie. Beide gehen aus das Innigste Hand in Hand. Wenn aber anatomische Untersuchungen in ihrer Ausübung viel¬ seitig von dem Glauben und Aberglauben der Völker abhängen, so ist es kein Wunder, daß gerade im Mittelalter alle Ursachen zusammentrafen, um solche Untersuchungen zu unterdrücken. Eine Wissenschaft, die mit der Schärfe des Messers die Schärfe des Gedankens controlirt, weiche die Nebel des Glaubens und der Meinungen zu festen Anschauungen verdichtet, fand vor allen eifrige Widersacher in Zeiten, in welchen der dunkle Drang nach einer gemüthlichen Erregung alle Welt beherrschte. Die Anatomie, die wichtigste Grundlage der Medicin, wurde im Mittelalter auf die dürftigsten Behelfe beschränkt. Dazu kam eine andere nicht minder wichtige Ursache. Keine Erfahrungswissenschaft kann sich ohne Gefahr dem Glauben an eine andre Autorität als die der Be¬ obachtung hingeben. Der Autoritätsglaube, indem er die eigne Untersuchung überflüssig erscheinen läßt, greift die empirischen Wissenschaften an ihrer Wurzel an und unterbindet ihnen d>e> Lebensadern. Ganz besonders gefährlich wird er, wo, wie in der Medicin, die für die Wissenschaft förderliche Beobachtung sehr complicirte Voraussetzungen hat; wo die Beobachtung am Krankenbette erst ihre richtige Stellung erhält durch die Untersuchung an der Leiche. In der Medicin haben von jeher alle apriorische» Theorien, alle spekulativen Systeme den Fortschritt gehemmt, weil sie, der Bequemlichkeit eine willkommene Stütze, die eigne Untersuchung überflüssig erscheinen ließen, und ohne Weiteres die Beobachtung zu verwerthen gestatteten, ohne daß man sich die Mühe zu geben brauchte, die Beobachtung selbst zu controliren. Gerade die Herrschaft eines solchen Systems bedingte nächst den genannten Ursachen den Verfall der Medicin im Mittelalter. Das System Galens, des berühmten Arztes von Pergamos, war vor allen andern dazu geeignet, zur Alleinherrschaft zu gelangen, weil es für jede Frage eine Antwort bereit .hatte und in einer eleganten und Grenjboten II. 1362. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/417>, abgerufen am 18.05.2024.