Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

mit Sicherheit bis in die Zeiten des vierten oder fünften Geschlechts auf¬
zusteigen.

Der geringe Sinn des Culturmenschen für die Kunde der Vergangenheit
ist aber um so beachtenswerther, weil ihm, nachdem er den Schutz seines Lebens,
seines Eigenthums und seiner Ehre dem Gesetze übertragen hat, nun weit
mehr Muße und Freiheit bleibt, jenem ihn von der Gegenwart abführenden
Triebe zu folgen, als in den Zeiten, wo das Dichten und Trachten des Ein¬
zelnen mehr oder weniger von diesem Schutze in Anspruch genommen und
daher an die Gegenwart gebannt wurde. Je weiter wir aber in der Geschichte
aufsteigen, desto dringender tritt diese Sorge an den Einzelnen heran, desto
weniger Muße findet er also, sich mit der Frage nach der Vergangenheit zu
beschäftigen.

Einen Hauptbcleg für die Schwäche des geschichtlichen Sinnes des Cultur¬
menschen ergibt aber der heutige Volksgesang. Wir kennen überhaupt nur ein
geschichtliches Lied im Munde des deutschen Volkes, das von Prinz Eugen.
Aber wir fragen, wo ist das Lied, welches sich im deutschen Volke aus den
Zeiten der Freiheitskriege und von deren Begebenheiten erhalten hätte? Ist es
einem von Gleims Grcnadierlicdern gelungen volkstümlich zu werden?

Wir fragen weiter, in welchem heute noch gesungenen Volksliede wird auf
eine Begebenheit des dreißigjährigen Krieges oder der Reformation, der Kreuz¬
züge, der Völkerwanderung oder der Hermannsschlacht angespielt?

Vielleicht mag man einwenden, daß die heutige Volksbildung den früher
vorhandenen Sinn für die Vergangenheit ersticke, weil sie die Aufmerksamkeit
des Volkes nach anderen Richtungen hinleite und daß der Naturmensch mehr
Sinn für die Geschichte und daher größere Ueberlieferungskraft besitzen müsse,
weil er, sobald er den Trieb fühle, sich von der Gegenwart abzuwenden, allein
an die Vergangenheit verwiesen sei.

Wenden wir uns daher beispielsweise zu den Albanesen, welche sich noch
in der vorausgesetzten Lage befinden, und sehen wir zu, wie es sich mit ihrem
geschichtlichen Erinnerungsvermögen verhält. Die höchst merkwürdigen Stammes¬
sagen der Bewohner des albanesischen Alpcnknotens, welche der Verfasser ge¬
sammelt hat. zeigen uns die Menschheit auf einer Entwickelungsstufe, von der
sich bei den übrigen europäischen Völkern nur wenige verschwommene Spuren
finden. Es ist dies der Uebergang der Familie zum Stamm, und es scheint
uns daher ungewiß, ob ihre Anfänge Mythen oder Geschichte enthalten.
Gleichwohl zählt der Stammbaum der ältesten nicht mehr als elf Geschlechter*).

Der Verfasser erkundigte sich auch während seines mehrjährigen Aufent-



Albcmcs. Studien l, S. 209, Note 1K9.

mit Sicherheit bis in die Zeiten des vierten oder fünften Geschlechts auf¬
zusteigen.

Der geringe Sinn des Culturmenschen für die Kunde der Vergangenheit
ist aber um so beachtenswerther, weil ihm, nachdem er den Schutz seines Lebens,
seines Eigenthums und seiner Ehre dem Gesetze übertragen hat, nun weit
mehr Muße und Freiheit bleibt, jenem ihn von der Gegenwart abführenden
Triebe zu folgen, als in den Zeiten, wo das Dichten und Trachten des Ein¬
zelnen mehr oder weniger von diesem Schutze in Anspruch genommen und
daher an die Gegenwart gebannt wurde. Je weiter wir aber in der Geschichte
aufsteigen, desto dringender tritt diese Sorge an den Einzelnen heran, desto
weniger Muße findet er also, sich mit der Frage nach der Vergangenheit zu
beschäftigen.

Einen Hauptbcleg für die Schwäche des geschichtlichen Sinnes des Cultur¬
menschen ergibt aber der heutige Volksgesang. Wir kennen überhaupt nur ein
geschichtliches Lied im Munde des deutschen Volkes, das von Prinz Eugen.
Aber wir fragen, wo ist das Lied, welches sich im deutschen Volke aus den
Zeiten der Freiheitskriege und von deren Begebenheiten erhalten hätte? Ist es
einem von Gleims Grcnadierlicdern gelungen volkstümlich zu werden?

Wir fragen weiter, in welchem heute noch gesungenen Volksliede wird auf
eine Begebenheit des dreißigjährigen Krieges oder der Reformation, der Kreuz¬
züge, der Völkerwanderung oder der Hermannsschlacht angespielt?

Vielleicht mag man einwenden, daß die heutige Volksbildung den früher
vorhandenen Sinn für die Vergangenheit ersticke, weil sie die Aufmerksamkeit
des Volkes nach anderen Richtungen hinleite und daß der Naturmensch mehr
Sinn für die Geschichte und daher größere Ueberlieferungskraft besitzen müsse,
weil er, sobald er den Trieb fühle, sich von der Gegenwart abzuwenden, allein
an die Vergangenheit verwiesen sei.

Wenden wir uns daher beispielsweise zu den Albanesen, welche sich noch
in der vorausgesetzten Lage befinden, und sehen wir zu, wie es sich mit ihrem
geschichtlichen Erinnerungsvermögen verhält. Die höchst merkwürdigen Stammes¬
sagen der Bewohner des albanesischen Alpcnknotens, welche der Verfasser ge¬
sammelt hat. zeigen uns die Menschheit auf einer Entwickelungsstufe, von der
sich bei den übrigen europäischen Völkern nur wenige verschwommene Spuren
finden. Es ist dies der Uebergang der Familie zum Stamm, und es scheint
uns daher ungewiß, ob ihre Anfänge Mythen oder Geschichte enthalten.
Gleichwohl zählt der Stammbaum der ältesten nicht mehr als elf Geschlechter*).

Der Verfasser erkundigte sich auch während seines mehrjährigen Aufent-



Albcmcs. Studien l, S. 209, Note 1K9.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0104" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114960"/>
          <p xml:id="ID_319" prev="#ID_318"> mit Sicherheit bis in die Zeiten des vierten oder fünften Geschlechts auf¬<lb/>
zusteigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_320"> Der geringe Sinn des Culturmenschen für die Kunde der Vergangenheit<lb/>
ist aber um so beachtenswerther, weil ihm, nachdem er den Schutz seines Lebens,<lb/>
seines Eigenthums und seiner Ehre dem Gesetze übertragen hat, nun weit<lb/>
mehr Muße und Freiheit bleibt, jenem ihn von der Gegenwart abführenden<lb/>
Triebe zu folgen, als in den Zeiten, wo das Dichten und Trachten des Ein¬<lb/>
zelnen mehr oder weniger von diesem Schutze in Anspruch genommen und<lb/>
daher an die Gegenwart gebannt wurde. Je weiter wir aber in der Geschichte<lb/>
aufsteigen, desto dringender tritt diese Sorge an den Einzelnen heran, desto<lb/>
weniger Muße findet er also, sich mit der Frage nach der Vergangenheit zu<lb/>
beschäftigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_321"> Einen Hauptbcleg für die Schwäche des geschichtlichen Sinnes des Cultur¬<lb/>
menschen ergibt aber der heutige Volksgesang. Wir kennen überhaupt nur ein<lb/>
geschichtliches Lied im Munde des deutschen Volkes, das von Prinz Eugen.<lb/>
Aber wir fragen, wo ist das Lied, welches sich im deutschen Volke aus den<lb/>
Zeiten der Freiheitskriege und von deren Begebenheiten erhalten hätte? Ist es<lb/>
einem von Gleims Grcnadierlicdern gelungen volkstümlich zu werden?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_322"> Wir fragen weiter, in welchem heute noch gesungenen Volksliede wird auf<lb/>
eine Begebenheit des dreißigjährigen Krieges oder der Reformation, der Kreuz¬<lb/>
züge, der Völkerwanderung oder der Hermannsschlacht angespielt?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_323"> Vielleicht mag man einwenden, daß die heutige Volksbildung den früher<lb/>
vorhandenen Sinn für die Vergangenheit ersticke, weil sie die Aufmerksamkeit<lb/>
des Volkes nach anderen Richtungen hinleite und daß der Naturmensch mehr<lb/>
Sinn für die Geschichte und daher größere Ueberlieferungskraft besitzen müsse,<lb/>
weil er, sobald er den Trieb fühle, sich von der Gegenwart abzuwenden, allein<lb/>
an die Vergangenheit verwiesen sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_324"> Wenden wir uns daher beispielsweise zu den Albanesen, welche sich noch<lb/>
in der vorausgesetzten Lage befinden, und sehen wir zu, wie es sich mit ihrem<lb/>
geschichtlichen Erinnerungsvermögen verhält. Die höchst merkwürdigen Stammes¬<lb/>
sagen der Bewohner des albanesischen Alpcnknotens, welche der Verfasser ge¬<lb/>
sammelt hat. zeigen uns die Menschheit auf einer Entwickelungsstufe, von der<lb/>
sich bei den übrigen europäischen Völkern nur wenige verschwommene Spuren<lb/>
finden. Es ist dies der Uebergang der Familie zum Stamm, und es scheint<lb/>
uns daher ungewiß, ob ihre Anfänge Mythen oder Geschichte enthalten.<lb/>
Gleichwohl zählt der Stammbaum der ältesten nicht mehr als elf Geschlechter*).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_325" next="#ID_326"> Der Verfasser erkundigte sich auch während seines mehrjährigen Aufent-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_15" place="foot"> Albcmcs. Studien l, S. 209, Note 1K9.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0104] mit Sicherheit bis in die Zeiten des vierten oder fünften Geschlechts auf¬ zusteigen. Der geringe Sinn des Culturmenschen für die Kunde der Vergangenheit ist aber um so beachtenswerther, weil ihm, nachdem er den Schutz seines Lebens, seines Eigenthums und seiner Ehre dem Gesetze übertragen hat, nun weit mehr Muße und Freiheit bleibt, jenem ihn von der Gegenwart abführenden Triebe zu folgen, als in den Zeiten, wo das Dichten und Trachten des Ein¬ zelnen mehr oder weniger von diesem Schutze in Anspruch genommen und daher an die Gegenwart gebannt wurde. Je weiter wir aber in der Geschichte aufsteigen, desto dringender tritt diese Sorge an den Einzelnen heran, desto weniger Muße findet er also, sich mit der Frage nach der Vergangenheit zu beschäftigen. Einen Hauptbcleg für die Schwäche des geschichtlichen Sinnes des Cultur¬ menschen ergibt aber der heutige Volksgesang. Wir kennen überhaupt nur ein geschichtliches Lied im Munde des deutschen Volkes, das von Prinz Eugen. Aber wir fragen, wo ist das Lied, welches sich im deutschen Volke aus den Zeiten der Freiheitskriege und von deren Begebenheiten erhalten hätte? Ist es einem von Gleims Grcnadierlicdern gelungen volkstümlich zu werden? Wir fragen weiter, in welchem heute noch gesungenen Volksliede wird auf eine Begebenheit des dreißigjährigen Krieges oder der Reformation, der Kreuz¬ züge, der Völkerwanderung oder der Hermannsschlacht angespielt? Vielleicht mag man einwenden, daß die heutige Volksbildung den früher vorhandenen Sinn für die Vergangenheit ersticke, weil sie die Aufmerksamkeit des Volkes nach anderen Richtungen hinleite und daß der Naturmensch mehr Sinn für die Geschichte und daher größere Ueberlieferungskraft besitzen müsse, weil er, sobald er den Trieb fühle, sich von der Gegenwart abzuwenden, allein an die Vergangenheit verwiesen sei. Wenden wir uns daher beispielsweise zu den Albanesen, welche sich noch in der vorausgesetzten Lage befinden, und sehen wir zu, wie es sich mit ihrem geschichtlichen Erinnerungsvermögen verhält. Die höchst merkwürdigen Stammes¬ sagen der Bewohner des albanesischen Alpcnknotens, welche der Verfasser ge¬ sammelt hat. zeigen uns die Menschheit auf einer Entwickelungsstufe, von der sich bei den übrigen europäischen Völkern nur wenige verschwommene Spuren finden. Es ist dies der Uebergang der Familie zum Stamm, und es scheint uns daher ungewiß, ob ihre Anfänge Mythen oder Geschichte enthalten. Gleichwohl zählt der Stammbaum der ältesten nicht mehr als elf Geschlechter*). Der Verfasser erkundigte sich auch während seines mehrjährigen Aufent- Albcmcs. Studien l, S. 209, Note 1K9.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/104
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/104>, abgerufen am 28.05.2024.