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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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die Perser fast dieselben Züge von Kyros Jugendgeschichte erzählen, als die
Römer von der des Romulus und Nomus und die Böotier von der des
Amphion und Zetsch und daraus den Schluß ziehen, daß sich dieselben Einzel¬
züge, so wie sie in den verschiedenen Sagen fast gleichlautend erzählt werden,
unmöglich im Leben wiederholen können, und da Kyros jünger sei, als
jene beiden Brüderpaare, das was uns Herodot von seiner Geburt und Jugend
erzählt, nickt der Geschichte, sondern der Sage angehöre. Nun starb aber
Kyros im Jahre 5Z9 vor Christus und mußte also um das Jahr 480 die
Ablagerung der alten Sage von der Geburt eines Saghelden auf den geschicht¬
lichen Kyros bei den Persern bereits vollständig vollzogen und der geschichtliche
Sackverhalt bereits von dem sagenhaften gänzlick verdrängt worden sein, damit
sie Herodot (welcher, möge er nun den griechiscken Feldzug des Xerxes mit¬
gemacht haben oder nickt, jedenfalls mit vielen Persern in Berührung ge¬
kommen sein muß) uns als Geschichte berichten könne. Denn wenn ihm irgend
eine abweichende Erzählung hierüber zu Ohren gekommen wäre, so hätte er
es nach seiner Weise gewiß nicht zu erwähnen versäumt. Erwähnt er doch
ausdrücklich die Ursache, welcher es zuzuschreiben sei, daß unter den Persern die
Sage aufgekommen, eine Hündin habe den ausgesetzten Kyros gesäugt*".
Zwischen Kyros' Tod und der Schlacht von Salamis liegen kaum fünfzig
Jahre, also nicht einmal zwei Geschlechter; wir neigen daher zu der Vermuthung,
daß die Ablagerung der Sage schon bei seinen Lebzeiten begonnen habe. Doch
bringt Herodot**) sogar eine Variante zu der eddischen Sage von Nandwers Habicht
mit Kambyses in Verbindung, und muthet uns auch das, was er als die
Ursache zur Ermordung seines Bruders Smerdis angibt, sehr sagenhaft an.

Wie in den vorliegenden beiden Beispielen, so finden wir überall, wo
Sage und Geschichte sich zu verschmelzen scheinen, die Erscheinung, daß die
Sage jede Verbindung mit der Geschichte zurückstößt und sie von dem Felde,
auf welches sie sich ansiedeln will, vertreibt, um es.gänzlich mit ihren Erzeugnissen
zu füllen.

Am Schluß unserer Untersuchung angelangt, wollen wir zur besseren Ueber¬
sicht unsere Ansichten über das Verhältniß der Sage zur Geschichte in kurzen
Sätzen zusammenfassen.

Sagkunde und Geschichte sind grundverschiedene Wissenschaften. Gegen¬
stand der Sage sind gläubige Naturanschauungen; Gegenstand der Geschickte
menschliche Begebenheiten.

Nur in der äußeren Form ihres Stoffes stimmen beide überein, indem die




-) I. of,p. 122.
") III. vap, 32.

die Perser fast dieselben Züge von Kyros Jugendgeschichte erzählen, als die
Römer von der des Romulus und Nomus und die Böotier von der des
Amphion und Zetsch und daraus den Schluß ziehen, daß sich dieselben Einzel¬
züge, so wie sie in den verschiedenen Sagen fast gleichlautend erzählt werden,
unmöglich im Leben wiederholen können, und da Kyros jünger sei, als
jene beiden Brüderpaare, das was uns Herodot von seiner Geburt und Jugend
erzählt, nickt der Geschichte, sondern der Sage angehöre. Nun starb aber
Kyros im Jahre 5Z9 vor Christus und mußte also um das Jahr 480 die
Ablagerung der alten Sage von der Geburt eines Saghelden auf den geschicht¬
lichen Kyros bei den Persern bereits vollständig vollzogen und der geschichtliche
Sackverhalt bereits von dem sagenhaften gänzlick verdrängt worden sein, damit
sie Herodot (welcher, möge er nun den griechiscken Feldzug des Xerxes mit¬
gemacht haben oder nickt, jedenfalls mit vielen Persern in Berührung ge¬
kommen sein muß) uns als Geschichte berichten könne. Denn wenn ihm irgend
eine abweichende Erzählung hierüber zu Ohren gekommen wäre, so hätte er
es nach seiner Weise gewiß nicht zu erwähnen versäumt. Erwähnt er doch
ausdrücklich die Ursache, welcher es zuzuschreiben sei, daß unter den Persern die
Sage aufgekommen, eine Hündin habe den ausgesetzten Kyros gesäugt*».
Zwischen Kyros' Tod und der Schlacht von Salamis liegen kaum fünfzig
Jahre, also nicht einmal zwei Geschlechter; wir neigen daher zu der Vermuthung,
daß die Ablagerung der Sage schon bei seinen Lebzeiten begonnen habe. Doch
bringt Herodot**) sogar eine Variante zu der eddischen Sage von Nandwers Habicht
mit Kambyses in Verbindung, und muthet uns auch das, was er als die
Ursache zur Ermordung seines Bruders Smerdis angibt, sehr sagenhaft an.

Wie in den vorliegenden beiden Beispielen, so finden wir überall, wo
Sage und Geschichte sich zu verschmelzen scheinen, die Erscheinung, daß die
Sage jede Verbindung mit der Geschichte zurückstößt und sie von dem Felde,
auf welches sie sich ansiedeln will, vertreibt, um es.gänzlich mit ihren Erzeugnissen
zu füllen.

Am Schluß unserer Untersuchung angelangt, wollen wir zur besseren Ueber¬
sicht unsere Ansichten über das Verhältniß der Sage zur Geschichte in kurzen
Sätzen zusammenfassen.

Sagkunde und Geschichte sind grundverschiedene Wissenschaften. Gegen¬
stand der Sage sind gläubige Naturanschauungen; Gegenstand der Geschickte
menschliche Begebenheiten.

Nur in der äußeren Form ihres Stoffes stimmen beide überein, indem die




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[0109] die Perser fast dieselben Züge von Kyros Jugendgeschichte erzählen, als die Römer von der des Romulus und Nomus und die Böotier von der des Amphion und Zetsch und daraus den Schluß ziehen, daß sich dieselben Einzel¬ züge, so wie sie in den verschiedenen Sagen fast gleichlautend erzählt werden, unmöglich im Leben wiederholen können, und da Kyros jünger sei, als jene beiden Brüderpaare, das was uns Herodot von seiner Geburt und Jugend erzählt, nickt der Geschichte, sondern der Sage angehöre. Nun starb aber Kyros im Jahre 5Z9 vor Christus und mußte also um das Jahr 480 die Ablagerung der alten Sage von der Geburt eines Saghelden auf den geschicht¬ lichen Kyros bei den Persern bereits vollständig vollzogen und der geschichtliche Sackverhalt bereits von dem sagenhaften gänzlick verdrängt worden sein, damit sie Herodot (welcher, möge er nun den griechiscken Feldzug des Xerxes mit¬ gemacht haben oder nickt, jedenfalls mit vielen Persern in Berührung ge¬ kommen sein muß) uns als Geschichte berichten könne. Denn wenn ihm irgend eine abweichende Erzählung hierüber zu Ohren gekommen wäre, so hätte er es nach seiner Weise gewiß nicht zu erwähnen versäumt. Erwähnt er doch ausdrücklich die Ursache, welcher es zuzuschreiben sei, daß unter den Persern die Sage aufgekommen, eine Hündin habe den ausgesetzten Kyros gesäugt*». Zwischen Kyros' Tod und der Schlacht von Salamis liegen kaum fünfzig Jahre, also nicht einmal zwei Geschlechter; wir neigen daher zu der Vermuthung, daß die Ablagerung der Sage schon bei seinen Lebzeiten begonnen habe. Doch bringt Herodot**) sogar eine Variante zu der eddischen Sage von Nandwers Habicht mit Kambyses in Verbindung, und muthet uns auch das, was er als die Ursache zur Ermordung seines Bruders Smerdis angibt, sehr sagenhaft an. Wie in den vorliegenden beiden Beispielen, so finden wir überall, wo Sage und Geschichte sich zu verschmelzen scheinen, die Erscheinung, daß die Sage jede Verbindung mit der Geschichte zurückstößt und sie von dem Felde, auf welches sie sich ansiedeln will, vertreibt, um es.gänzlich mit ihren Erzeugnissen zu füllen. Am Schluß unserer Untersuchung angelangt, wollen wir zur besseren Ueber¬ sicht unsere Ansichten über das Verhältniß der Sage zur Geschichte in kurzen Sätzen zusammenfassen. Sagkunde und Geschichte sind grundverschiedene Wissenschaften. Gegen¬ stand der Sage sind gläubige Naturanschauungen; Gegenstand der Geschickte menschliche Begebenheiten. Nur in der äußeren Form ihres Stoffes stimmen beide überein, indem die -) I. of,p. 122. ") III. vap, 32.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/109>, abgerufen am 08.06.2024.