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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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verstanden, daß die alten Sprachen den Mittel- und Schwerpunkt des gelehrten Un¬
terrichts bilden (vgl. Seite 114 bis 132 die Aeußerungen Wolfs über den Unter¬
richt in der deutschen Sprache), die übrigen Schulwissenschaften diesen nur ergänzen
und unterstützen sollten, doch mit dem Unterschiede, daß er seiner Wissenschaft ein
selbständiges Princip zu Grunde legte und "von der Kenntniß der alterthüm-
lichen Menschheit auf wahre Menschenkenntniß, von dieser aus wahre Menschenbil¬
dung ausging/' -- "Auf immer," so sagt er im Museum der Altertumswissenschaft,
"dürfen die Alten Anspruch machen, durch die Einfalt und Würde und den großen
umfassenden Sinn, womit sie, was wahr und schön und edel ist, ausdrücken, die
Lehrer und Ermuntercr jeder Nachwelt zu bleiben. Die Lesung und Betrachtung
ihrer Werke wird in steter Verjüngung auf Geist und Gemüth wirken, nicht wie
historisch ausgestellte Charaktere, sondern wie die Vertraulichkeit mit geschätzten und lieb-
gewordenen Personen: so werden sie durch die Gesinnungen und Gefühle, die sie mit¬
theilen, in verderbten Zeiten die Gebrechen der Erziehung verbessern und die Men¬
schen über die mannigfaltige Beschränktheit der Gegenwart hinaufrücken. Schon
öfters gelang es den Musen, die blos in den aus dem Alterthum überlieferten
Künsten wohnen, durch ihre Zaubermittel die Rohheit von Völkern zu besiegen und
sie der wahren Menschenwürde zu nähern." Die Idee, in welcher Alles wurzelt,
was Wolf über Pädagogik ausgesprochen hat, ist die Idee der Humanität, das
Streben nach rein menschlicher Bildung und Erhöhung aller Verstandes- und Gemüths-
kräfte zu schöner Harmonie des innern und äußern Manschen. Diese Idee stand in
entschiedenem Gegensatz zu der Tendenz des damaligen pädagogischen Realismus auf
das Nützliche, zu dem Streben, die Jugend durch Ausrüstung mit allerlei prak¬
tischen Kenntnissen für das Leben, für die Zeit zu erziehen. Wider dieses Princip
liegt er in steter Fehde, Und wo er mit ihm ein Compromiß eingeht, ist es immer
nur ein solches, wie es jedes praktische Handeln bedingt, ein Compromiß mit den
unabweisbaren Forderungen der Wirklichkeit. Er war nicht in dem Irrthum be¬
fangen, ein gewisser Geist müsse nothwendig in eine gewisse Form gebannt sein, und
wenn er an das Herkommen des humanistischen Unterrichts anknüpfte, so wußte er,
daß er mit seinem älterthumswissenschastlichcn Princip der alten Form einen neuen
Geist eingehaucht hatte. Die neuere Pädagogik ist über ihn hinausgegangen, indem
sie die Ueberzeugung von der Zusammengehörigkeit der antiken und der nationalen
Elemente, als der Grundfactoren unsrer höhern Bildung, unseres höhern geistigen
Lebens gewonnen hat. Niemand aber wird darüber befremdet sein, daß Wolf in
dieser Hinsicht mit uns nicht den gleichen Standpunkt einnehmen konnte.






Verantwortlicher Redacteur: or. Moritz Busch.
Verlag von F. L. Herbig. -- Druck von C. E. Elbert in Leipzig.

verstanden, daß die alten Sprachen den Mittel- und Schwerpunkt des gelehrten Un¬
terrichts bilden (vgl. Seite 114 bis 132 die Aeußerungen Wolfs über den Unter¬
richt in der deutschen Sprache), die übrigen Schulwissenschaften diesen nur ergänzen
und unterstützen sollten, doch mit dem Unterschiede, daß er seiner Wissenschaft ein
selbständiges Princip zu Grunde legte und „von der Kenntniß der alterthüm-
lichen Menschheit auf wahre Menschenkenntniß, von dieser aus wahre Menschenbil¬
dung ausging/' — „Auf immer," so sagt er im Museum der Altertumswissenschaft,
„dürfen die Alten Anspruch machen, durch die Einfalt und Würde und den großen
umfassenden Sinn, womit sie, was wahr und schön und edel ist, ausdrücken, die
Lehrer und Ermuntercr jeder Nachwelt zu bleiben. Die Lesung und Betrachtung
ihrer Werke wird in steter Verjüngung auf Geist und Gemüth wirken, nicht wie
historisch ausgestellte Charaktere, sondern wie die Vertraulichkeit mit geschätzten und lieb-
gewordenen Personen: so werden sie durch die Gesinnungen und Gefühle, die sie mit¬
theilen, in verderbten Zeiten die Gebrechen der Erziehung verbessern und die Men¬
schen über die mannigfaltige Beschränktheit der Gegenwart hinaufrücken. Schon
öfters gelang es den Musen, die blos in den aus dem Alterthum überlieferten
Künsten wohnen, durch ihre Zaubermittel die Rohheit von Völkern zu besiegen und
sie der wahren Menschenwürde zu nähern." Die Idee, in welcher Alles wurzelt,
was Wolf über Pädagogik ausgesprochen hat, ist die Idee der Humanität, das
Streben nach rein menschlicher Bildung und Erhöhung aller Verstandes- und Gemüths-
kräfte zu schöner Harmonie des innern und äußern Manschen. Diese Idee stand in
entschiedenem Gegensatz zu der Tendenz des damaligen pädagogischen Realismus auf
das Nützliche, zu dem Streben, die Jugend durch Ausrüstung mit allerlei prak¬
tischen Kenntnissen für das Leben, für die Zeit zu erziehen. Wider dieses Princip
liegt er in steter Fehde, Und wo er mit ihm ein Compromiß eingeht, ist es immer
nur ein solches, wie es jedes praktische Handeln bedingt, ein Compromiß mit den
unabweisbaren Forderungen der Wirklichkeit. Er war nicht in dem Irrthum be¬
fangen, ein gewisser Geist müsse nothwendig in eine gewisse Form gebannt sein, und
wenn er an das Herkommen des humanistischen Unterrichts anknüpfte, so wußte er,
daß er mit seinem älterthumswissenschastlichcn Princip der alten Form einen neuen
Geist eingehaucht hatte. Die neuere Pädagogik ist über ihn hinausgegangen, indem
sie die Ueberzeugung von der Zusammengehörigkeit der antiken und der nationalen
Elemente, als der Grundfactoren unsrer höhern Bildung, unseres höhern geistigen
Lebens gewonnen hat. Niemand aber wird darüber befremdet sein, daß Wolf in
dieser Hinsicht mit uns nicht den gleichen Standpunkt einnehmen konnte.






Verantwortlicher Redacteur: or. Moritz Busch.
Verlag von F. L. Herbig. — Druck von C. E. Elbert in Leipzig.
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[0492] verstanden, daß die alten Sprachen den Mittel- und Schwerpunkt des gelehrten Un¬ terrichts bilden (vgl. Seite 114 bis 132 die Aeußerungen Wolfs über den Unter¬ richt in der deutschen Sprache), die übrigen Schulwissenschaften diesen nur ergänzen und unterstützen sollten, doch mit dem Unterschiede, daß er seiner Wissenschaft ein selbständiges Princip zu Grunde legte und „von der Kenntniß der alterthüm- lichen Menschheit auf wahre Menschenkenntniß, von dieser aus wahre Menschenbil¬ dung ausging/' — „Auf immer," so sagt er im Museum der Altertumswissenschaft, „dürfen die Alten Anspruch machen, durch die Einfalt und Würde und den großen umfassenden Sinn, womit sie, was wahr und schön und edel ist, ausdrücken, die Lehrer und Ermuntercr jeder Nachwelt zu bleiben. Die Lesung und Betrachtung ihrer Werke wird in steter Verjüngung auf Geist und Gemüth wirken, nicht wie historisch ausgestellte Charaktere, sondern wie die Vertraulichkeit mit geschätzten und lieb- gewordenen Personen: so werden sie durch die Gesinnungen und Gefühle, die sie mit¬ theilen, in verderbten Zeiten die Gebrechen der Erziehung verbessern und die Men¬ schen über die mannigfaltige Beschränktheit der Gegenwart hinaufrücken. Schon öfters gelang es den Musen, die blos in den aus dem Alterthum überlieferten Künsten wohnen, durch ihre Zaubermittel die Rohheit von Völkern zu besiegen und sie der wahren Menschenwürde zu nähern." Die Idee, in welcher Alles wurzelt, was Wolf über Pädagogik ausgesprochen hat, ist die Idee der Humanität, das Streben nach rein menschlicher Bildung und Erhöhung aller Verstandes- und Gemüths- kräfte zu schöner Harmonie des innern und äußern Manschen. Diese Idee stand in entschiedenem Gegensatz zu der Tendenz des damaligen pädagogischen Realismus auf das Nützliche, zu dem Streben, die Jugend durch Ausrüstung mit allerlei prak¬ tischen Kenntnissen für das Leben, für die Zeit zu erziehen. Wider dieses Princip liegt er in steter Fehde, Und wo er mit ihm ein Compromiß eingeht, ist es immer nur ein solches, wie es jedes praktische Handeln bedingt, ein Compromiß mit den unabweisbaren Forderungen der Wirklichkeit. Er war nicht in dem Irrthum be¬ fangen, ein gewisser Geist müsse nothwendig in eine gewisse Form gebannt sein, und wenn er an das Herkommen des humanistischen Unterrichts anknüpfte, so wußte er, daß er mit seinem älterthumswissenschastlichcn Princip der alten Form einen neuen Geist eingehaucht hatte. Die neuere Pädagogik ist über ihn hinausgegangen, indem sie die Ueberzeugung von der Zusammengehörigkeit der antiken und der nationalen Elemente, als der Grundfactoren unsrer höhern Bildung, unseres höhern geistigen Lebens gewonnen hat. Niemand aber wird darüber befremdet sein, daß Wolf in dieser Hinsicht mit uns nicht den gleichen Standpunkt einnehmen konnte. Verantwortlicher Redacteur: or. Moritz Busch. Verlag von F. L. Herbig. — Druck von C. E. Elbert in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/492>, abgerufen am 14.05.2024.