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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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als in der Arbeit seiner inneren Wiedergeburt durch die, sei es freiwillige, sei
es aufgedrungene Theilnahme an den Händeln der europäischen Politik unter¬
brochen zu werden. Die erste Aufgabe seiner inneren Politik ist aber, mit
Ungarn Frieden zu schließen; daß aber diese Aufgabe durch seine Verwickelung
in die polnischen Händel gefördert werde, bezweifeln wir.

Wie ganz anders stehen die beiden Westmächte Polen gegenüber! Keiner
von ihnen erwächst aus der Wiederherstellung Polens eine unmittelbare Ge¬
fahr. Die Nationalitätenfrage aber ist, trotz Irlands, für England so wenig
bedenklich, daß es sich mit einem gewissen Behagen den Sympathien für jede
unterdrückte Nation hingeben kann, während die napoleonische Phraseologie die
Befreiung der unterdrückten Nationen sogar als einen Theil des civilisatorischen
Berufes Frankreichs betrachtet, natürlich soweit die Interessen Frankreichs die
Anwendung dieses energischen Agitationsmittels gestatten. So ist also gerade
in den Punkten, die recht eigentlich den Kern und das Wesen der polnischen
Frage bilden, jede Gemeinsamkeit der Anschauungen zwischen Oestreich und den
Westmächten ausgeschlossen: vorausgesetzt nämlich, daß diese wirklich die Ab¬
sicht haben, den Forderungen der Polen gerecht zu werden, ein Punkt, aus den
wir weiter unten zurückkommen wollen. Nichts ist den Verbündeten gemein¬
sam, als die Tendenz, auf Rußland einen Druck auszuüben. Aber auch in
dieser Beziehung hat das Bündniß eine sehr schwache Stelle: England kann
sich nicht auf Frankreich, und Oestreich sich weder auf Frankreich noch auf Eng¬
land verlassen, und weil Oestreich Ursache hat, Frankreich zu mißtrauen, kann
Frankreich seinerseits nicht umhin, Oestreich mit dem äußersten Argwohn zu
beobachten. Offenbar liegt die Ursache dieses gegenseitigen Mißtrauens in der
durchaus verschiedenen Stellung, welche die drei Mächte zu Nußland einnehmen.
England und Oestreich stehen zu Rußland in einem principiell feindlichen Ver¬
hältnisse, da beide Mächte in der orientalischen Frage die der russischen ent¬
gegengesetzte Anschauung vertreten. Doch besteht in der Stellung beider der
große Unterschied, daß England die Pausen zwischen den einzelnen Krisen die¬
ser Frage zu einem unausgesetzten diplomatischen Kriege benutzen kann, indem
es Rußland entschieden überlegen ist. Eine Gefahr für seine Interessen hat
es dagegen von Seiten Rußlands erst im Augenblicke der Krise zu befürchten;
auf den Moment der Krisis kann es seine ganze Kraft versparen. Viel pein¬
licher ist die Lage Oestreichs, gegen das Nußland einen unausgesetzten Minen¬
krieg führen kann und in der letzten Zeit rücksichtslos geführt hat. Jede von
Rußland in der Moldau, Walachei, Serbien angesponnene Intrigue ist ein
gegen Oestreichs verwundbarste Stelle gerichteter Streich. Dazu kommt, daß
jeder Fortschritt der einen Macht im Orient die Pläne der andern sofort durch¬
kreuzt, daß keine von ihnen auch nur einen Schritt thun kann, ohne die
Interessen der andern aufs empfindlichste zu bedrohen und zu verletzen. Sehr


als in der Arbeit seiner inneren Wiedergeburt durch die, sei es freiwillige, sei
es aufgedrungene Theilnahme an den Händeln der europäischen Politik unter¬
brochen zu werden. Die erste Aufgabe seiner inneren Politik ist aber, mit
Ungarn Frieden zu schließen; daß aber diese Aufgabe durch seine Verwickelung
in die polnischen Händel gefördert werde, bezweifeln wir.

Wie ganz anders stehen die beiden Westmächte Polen gegenüber! Keiner
von ihnen erwächst aus der Wiederherstellung Polens eine unmittelbare Ge¬
fahr. Die Nationalitätenfrage aber ist, trotz Irlands, für England so wenig
bedenklich, daß es sich mit einem gewissen Behagen den Sympathien für jede
unterdrückte Nation hingeben kann, während die napoleonische Phraseologie die
Befreiung der unterdrückten Nationen sogar als einen Theil des civilisatorischen
Berufes Frankreichs betrachtet, natürlich soweit die Interessen Frankreichs die
Anwendung dieses energischen Agitationsmittels gestatten. So ist also gerade
in den Punkten, die recht eigentlich den Kern und das Wesen der polnischen
Frage bilden, jede Gemeinsamkeit der Anschauungen zwischen Oestreich und den
Westmächten ausgeschlossen: vorausgesetzt nämlich, daß diese wirklich die Ab¬
sicht haben, den Forderungen der Polen gerecht zu werden, ein Punkt, aus den
wir weiter unten zurückkommen wollen. Nichts ist den Verbündeten gemein¬
sam, als die Tendenz, auf Rußland einen Druck auszuüben. Aber auch in
dieser Beziehung hat das Bündniß eine sehr schwache Stelle: England kann
sich nicht auf Frankreich, und Oestreich sich weder auf Frankreich noch auf Eng¬
land verlassen, und weil Oestreich Ursache hat, Frankreich zu mißtrauen, kann
Frankreich seinerseits nicht umhin, Oestreich mit dem äußersten Argwohn zu
beobachten. Offenbar liegt die Ursache dieses gegenseitigen Mißtrauens in der
durchaus verschiedenen Stellung, welche die drei Mächte zu Nußland einnehmen.
England und Oestreich stehen zu Rußland in einem principiell feindlichen Ver¬
hältnisse, da beide Mächte in der orientalischen Frage die der russischen ent¬
gegengesetzte Anschauung vertreten. Doch besteht in der Stellung beider der
große Unterschied, daß England die Pausen zwischen den einzelnen Krisen die¬
ser Frage zu einem unausgesetzten diplomatischen Kriege benutzen kann, indem
es Rußland entschieden überlegen ist. Eine Gefahr für seine Interessen hat
es dagegen von Seiten Rußlands erst im Augenblicke der Krise zu befürchten;
auf den Moment der Krisis kann es seine ganze Kraft versparen. Viel pein¬
licher ist die Lage Oestreichs, gegen das Nußland einen unausgesetzten Minen¬
krieg führen kann und in der letzten Zeit rücksichtslos geführt hat. Jede von
Rußland in der Moldau, Walachei, Serbien angesponnene Intrigue ist ein
gegen Oestreichs verwundbarste Stelle gerichteter Streich. Dazu kommt, daß
jeder Fortschritt der einen Macht im Orient die Pläne der andern sofort durch¬
kreuzt, daß keine von ihnen auch nur einen Schritt thun kann, ohne die
Interessen der andern aufs empfindlichste zu bedrohen und zu verletzen. Sehr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/134>, abgerufen am 31.05.2024.