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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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liebe Offenbarungen des Menschengeistes zu begreifen, die Völker selbst als
große geistige Einheiten zu erfassen, deren Leben ebenso, wie das der Individuen
gesetzvvllcn Verlauf bat, die Abhängigkeit der Einzelnen von der Volkskraft
nachzuweisen und darzustellen, das war. was die deutsche Wissenschaft damals
zuerst ahnend suchte, seitdem so glänzend begriffen hat. Es muß hier erinnert
werden, daß dieses Verständniß der geschichtlichen Processe, welches uns so ge¬
läufig ist, in Stockmars Jugend noch im Entstehen war, und daß zu derselben
Zeit, in welcher die Völker Europas und Amerikas ihre politischen Bedürfnisse
in hartem Kampfe geltend machten, auch die Wissenschaft zuerst Auge und Ur¬
theil erhielt für das Schaffen der Volkskraft und die Naturnotwendigkeit, mit
welcher viele Bildungen derselben vor sich gingen. Der Jüngling sah diese
Auffassung des Lebendigen zunächst nicht vorzugsweise in seiner Wissenschaft
lebendig werden, sondern in dem Studium der Sprachen und der alten Litera¬
turen. Aber sie wurde ihm von höchster Bedeutung.

Seine fröhliche mittheilende Natur, welche an geselligem Verkehr und gu¬
ter Kameradschaft großen Gefallen fand, stellte ihn bald in einen weiten Kreis
von werthen Genossen. Aber die Lage des Vaterlandes riß den Jüngling und
seine Freunde gewaltsam von den Büchern zur Betrachtung der großen Welt¬
ereignisse herauf. Eifern legte sich die Franzosenherrschaft auf den deutschen
Boden, Preußen wurde zerschlagen, der Rheinbund gegründet, ein ungeheures
Schicksal schwebte über dem Volle und streifte mit seinen dunklen Fittigen an
jedes einzelne Haupt. Das Herz des lebensfroher Jünglings zog sich zusammen
vor Schmerz über das allgemeine Unglück. Wahrscheinlich hatte er schon aus
dem Vaterhause eine stille Verachtung gegen die Erbärmlichkeiten der alten engen
Territorialherrschaft mitgebracht, jetzt sah er die hohlen Zustände der Rhein¬
bundsstaaten, Willkür und Frevel der Fremden, hier klägliche Schwäche, dort
sittenlose Gewaltsamkeit. Auch in ihm und seinem Kreise flammte die Sehn¬
sucht nach einem neuen Staatsleben der Deutschen auf, eine tiefe und starke
Sehnsucht nach Einheit. Macht, Größe des Vaterlandes. Und diese Empfin¬
dung blieb dem Manne durch sein ganzes Leben, sie erfüllte noch die Seele
des Greises. Stockmar gehörte, wie sein jenenser Freund Friedrich Rückert,
zu den ersten Süddeutschen, welche in jener Zeit durch einen großen und
schmerzvollen Patriotismus veredelt wurden. Seit dem Jahre 1809, seit der
Niederlage Oestreichs wurde die Empfindung der Schmach so lebhaft, daß
sie der Jugend auch das Treiben des Tages verdüsterte. Einst wurde in
seiner Gesellschaft wieder einmal der Grimm über die verzweifelte Lage der
Deutschen laut, und im Gespräch der Studenten brachen Mordgedanken gegen
Napoleon heraus. Da erhob sich ein alter preußischer Offizier, mit welchem
Stockmar und seine Kameraden viel verkehrten, und sagte ernsthaft: "So spre¬
chen junge Leute, laßt das gut sein. Wer die Welt länger kennt, der weiß,


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liebe Offenbarungen des Menschengeistes zu begreifen, die Völker selbst als
große geistige Einheiten zu erfassen, deren Leben ebenso, wie das der Individuen
gesetzvvllcn Verlauf bat, die Abhängigkeit der Einzelnen von der Volkskraft
nachzuweisen und darzustellen, das war. was die deutsche Wissenschaft damals
zuerst ahnend suchte, seitdem so glänzend begriffen hat. Es muß hier erinnert
werden, daß dieses Verständniß der geschichtlichen Processe, welches uns so ge¬
läufig ist, in Stockmars Jugend noch im Entstehen war, und daß zu derselben
Zeit, in welcher die Völker Europas und Amerikas ihre politischen Bedürfnisse
in hartem Kampfe geltend machten, auch die Wissenschaft zuerst Auge und Ur¬
theil erhielt für das Schaffen der Volkskraft und die Naturnotwendigkeit, mit
welcher viele Bildungen derselben vor sich gingen. Der Jüngling sah diese
Auffassung des Lebendigen zunächst nicht vorzugsweise in seiner Wissenschaft
lebendig werden, sondern in dem Studium der Sprachen und der alten Litera¬
turen. Aber sie wurde ihm von höchster Bedeutung.

Seine fröhliche mittheilende Natur, welche an geselligem Verkehr und gu¬
ter Kameradschaft großen Gefallen fand, stellte ihn bald in einen weiten Kreis
von werthen Genossen. Aber die Lage des Vaterlandes riß den Jüngling und
seine Freunde gewaltsam von den Büchern zur Betrachtung der großen Welt¬
ereignisse herauf. Eifern legte sich die Franzosenherrschaft auf den deutschen
Boden, Preußen wurde zerschlagen, der Rheinbund gegründet, ein ungeheures
Schicksal schwebte über dem Volle und streifte mit seinen dunklen Fittigen an
jedes einzelne Haupt. Das Herz des lebensfroher Jünglings zog sich zusammen
vor Schmerz über das allgemeine Unglück. Wahrscheinlich hatte er schon aus
dem Vaterhause eine stille Verachtung gegen die Erbärmlichkeiten der alten engen
Territorialherrschaft mitgebracht, jetzt sah er die hohlen Zustände der Rhein¬
bundsstaaten, Willkür und Frevel der Fremden, hier klägliche Schwäche, dort
sittenlose Gewaltsamkeit. Auch in ihm und seinem Kreise flammte die Sehn¬
sucht nach einem neuen Staatsleben der Deutschen auf, eine tiefe und starke
Sehnsucht nach Einheit. Macht, Größe des Vaterlandes. Und diese Empfin¬
dung blieb dem Manne durch sein ganzes Leben, sie erfüllte noch die Seele
des Greises. Stockmar gehörte, wie sein jenenser Freund Friedrich Rückert,
zu den ersten Süddeutschen, welche in jener Zeit durch einen großen und
schmerzvollen Patriotismus veredelt wurden. Seit dem Jahre 1809, seit der
Niederlage Oestreichs wurde die Empfindung der Schmach so lebhaft, daß
sie der Jugend auch das Treiben des Tages verdüsterte. Einst wurde in
seiner Gesellschaft wieder einmal der Grimm über die verzweifelte Lage der
Deutschen laut, und im Gespräch der Studenten brachen Mordgedanken gegen
Napoleon heraus. Da erhob sich ein alter preußischer Offizier, mit welchem
Stockmar und seine Kameraden viel verkehrten, und sagte ernsthaft: „So spre¬
chen junge Leute, laßt das gut sein. Wer die Welt länger kennt, der weiß,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/171>, abgerufen am 09.06.2024.