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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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immer wieder abgeschwächt durch die schändlichen und massenhaften politischen
Meuchelmorde ihrer Negierung, durch den Terrorismus, welchen das geheime
Conn6 ausübt und durch die Unwahrhaftigkeit und Unehrlichkeit der Anekdoten
und Siegesberichte, welche von den Federn der polnischen Partei verbreitet
werden. Wenn sie mit Recht über die Barbarei und die Lügen der Nüssen
klagen, bei ihnen selbst ist die asiatische Wildheit und das Haschen nach Schein
nicht geringer. Wir glauben den russischen Siegesberichten nicht, welche in der
alten plumpen Weise ihre Verluste auf wenige Mann angeben, und wir glauben
den polnischen Tagesberichten nicht, welche jeden Bandenführer zu einem Feld¬
herrn und jeden Haufen trunkener Weißröcke zu einem Corps hochherziger Pa¬
trioten machen. Wir halten keineswegs dafür, daß die Maßregeln des Generals
Murawieff vor menschlichem Gefühl gerechtfertigt werden können, aber wir achten
die geheimen Hinrichtungen und Erpressungen der nationalen Regierung für nicht
weniger abscheulich. Und wir können uns nicht enthalten, die Charaktere, die
Humanität und die Ehrlichkeit, welche einzelne von beiden kriegführenden Par¬
teien erweisen, mit gleichem niedrigen Maße zu schätzen. Es gibt in den
deutschen Grenzländern ein Volkssprichwort vom Kessel und Ofentopf, welches
ziemlich genau die Stimmung ausdrückt, mit welcher man in Deutschland
das Treiben beider Factionen betrachtet. Der größte Schmerz aber, welchen
wir empfinden, ist der, daß eine Viertel Millionen Deutscher schutzlos
zwischen den kriegführenden Parteien steht, von beiden um die Wette geplagt
und ausgesogen.

Bis zum Winter scheint bei der gegenwärtigen Lage der Sache ein Krieg
der Westmächte gegen Rußland nicht zu fürchten. Geht beim Aufgang des
Wintereiscs auch die polnische Jnsurrection wieder auf, so ist durchaus unbe-
rechnenbar, welche äußeren Conflicte auch uns Deutschen bevorstehen. Das
freilich kann sich jeder sagen, aber der klügste Staatsmann würde schwerlich
mehr vorhersagen können. Wie wir Deutsche dies Unberechnenbare bestehen, das
wird zumeist davon abhängen, ob es nach dieser fröhlichen Sommerruhe dem
preußischen Volke gelingt, in der Arbeitszeit des Winters seinen ernsten Kampf
mit dem gegenwärtigen System siegreich auszukämpfen. Findet das nächste
Frühjahr den preußischen Versassungsstreit beendigt, so werden wir und das
westliche Europa durch die polnischen Angelegenheiten nicht in Krieg verwickelt.
Die Pflicht der preußischen Opposition aber ist, ihren Sieg nicht von aus¬
wärtigen Conflicten ihres Staates, sondern von der eigenen Energie zu er¬
warten.




immer wieder abgeschwächt durch die schändlichen und massenhaften politischen
Meuchelmorde ihrer Negierung, durch den Terrorismus, welchen das geheime
Conn6 ausübt und durch die Unwahrhaftigkeit und Unehrlichkeit der Anekdoten
und Siegesberichte, welche von den Federn der polnischen Partei verbreitet
werden. Wenn sie mit Recht über die Barbarei und die Lügen der Nüssen
klagen, bei ihnen selbst ist die asiatische Wildheit und das Haschen nach Schein
nicht geringer. Wir glauben den russischen Siegesberichten nicht, welche in der
alten plumpen Weise ihre Verluste auf wenige Mann angeben, und wir glauben
den polnischen Tagesberichten nicht, welche jeden Bandenführer zu einem Feld¬
herrn und jeden Haufen trunkener Weißröcke zu einem Corps hochherziger Pa¬
trioten machen. Wir halten keineswegs dafür, daß die Maßregeln des Generals
Murawieff vor menschlichem Gefühl gerechtfertigt werden können, aber wir achten
die geheimen Hinrichtungen und Erpressungen der nationalen Regierung für nicht
weniger abscheulich. Und wir können uns nicht enthalten, die Charaktere, die
Humanität und die Ehrlichkeit, welche einzelne von beiden kriegführenden Par¬
teien erweisen, mit gleichem niedrigen Maße zu schätzen. Es gibt in den
deutschen Grenzländern ein Volkssprichwort vom Kessel und Ofentopf, welches
ziemlich genau die Stimmung ausdrückt, mit welcher man in Deutschland
das Treiben beider Factionen betrachtet. Der größte Schmerz aber, welchen
wir empfinden, ist der, daß eine Viertel Millionen Deutscher schutzlos
zwischen den kriegführenden Parteien steht, von beiden um die Wette geplagt
und ausgesogen.

Bis zum Winter scheint bei der gegenwärtigen Lage der Sache ein Krieg
der Westmächte gegen Rußland nicht zu fürchten. Geht beim Aufgang des
Wintereiscs auch die polnische Jnsurrection wieder auf, so ist durchaus unbe-
rechnenbar, welche äußeren Conflicte auch uns Deutschen bevorstehen. Das
freilich kann sich jeder sagen, aber der klügste Staatsmann würde schwerlich
mehr vorhersagen können. Wie wir Deutsche dies Unberechnenbare bestehen, das
wird zumeist davon abhängen, ob es nach dieser fröhlichen Sommerruhe dem
preußischen Volke gelingt, in der Arbeitszeit des Winters seinen ernsten Kampf
mit dem gegenwärtigen System siegreich auszukämpfen. Findet das nächste
Frühjahr den preußischen Versassungsstreit beendigt, so werden wir und das
westliche Europa durch die polnischen Angelegenheiten nicht in Krieg verwickelt.
Die Pflicht der preußischen Opposition aber ist, ihren Sieg nicht von aus¬
wärtigen Conflicten ihres Staates, sondern von der eigenen Energie zu er¬
warten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/246>, abgerufen am 15.05.2024.