Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sie schelten eine bestimmte Commission, die im Schlosse zu I, wahrscheinlich
in der Lage gewesen wäre, Herrn Ganier vor seiner Heldenthat zu verhaften,
die sich aber nicht berechtigt hielt, den herbeigeholten Schlossermeister zu zwin¬
gen, daß er eine verschlossn" Zimmerthüre öffne, da er aus Furcht vor der
Rache seiner Stammesgenossen sich dessen weigerte.

Die wenigsten unserer Haussuchungen, Patrouillen u. s. w. werden sich
vor dem formalen Rechte vertheidigen lassen, aber bei der Art, wie die National¬
regierung übergreift, bei der von den geistlichen und adligen Agitatoren aus¬
gehenden Demoralisation, stehen wir ja auch von der andern Seite in einem
factischen Ausnahmezustände. Denken Sie doch, was wir erlebt haben und
noch täglich erleben. Da klagt eine Witwe, Edelfrau, ihrem Seelsorger, daß
die Nationalregierung ihren Sohn zum Zuzüge zwingen wolle; sie aber werde
ihn, den einzigen Verwalter ihres Gutes, nicht lassen. Der fromme Mann
erwidert: "Dann werde ich Sie bei der Nationalregierung verklagen" und der
Jüngling geht. -- Dort wird ein Mann von drei andern wirklich gezwungen,
sich an Ganiers Zuge zu betheiligen. -- Fälle von hohler Prahlerei, bestimmt
zu ängstigen, offenbare Rohheiten fehlen nickt. Es war an einem Junimorgen,
daß eine deutsche Witwe mit ihrer Tochter und ihrem fertig polnisch redenden
Sohne einen Gasthof aufsuchte. Ihre Trauerkleidung veranlaßte einen jungen
Polen, sie für die Seinigen zu halten; er zeigte dem Jüngling einen Strick
und gab ihm den besten Commentar zur Hieroglyphenschrift, als eine unvor¬
sichtige deutsche Aeußerung der Mutter den Fremden warnte und zu schleuniger
Flucht veranlaßte. -- In demselben Gasthof treten zwei Männer einen dritten,
mit dem sie wegen seiner nationalen Lauheit gespannt sind, an, bieten ihm
jeder eine Hand zur Versöhnung, und da er einschlägt, fällt die Schlinge über
seinen Hals; den hat seine Körperkraft gerettet. Jenen Gensdarmen, der beim
Jahrmarkt überfallen und an seinem Leben ernstlich bedroht war, befreite erst
die Militärpatrouille.

Natürlich fragt man sich, was würde ohne die starke Besatzung aus unsern
Grenzkreisen? wie weit kämen wir, wenn alle und jede Form streng gewahrt
würde? Weil aber auch die leiseste Rechtsüberschreitung das Gefühl der Un¬
sicherheit gibt, sehnen wir uns bisweilen darnach, daß auch die Ausnahmen
normirt würden, und so kommt es, daß auch unsere Behörden sich ab und zu
die Frage stellen, ob wohl gewisse Maßregeln geboten seien. Freuen wir uns,
daß sie sich dieselbe bisher stets verneinend beantwortet haben, und geben wir
uns der Hoffnung hin, daß unsere polnischen Mitbürger, welches auch sonst
ihre Schritte seien, sich selbst innerhalb der Grenzen unserer Gesetze halten,
und daß sie, namentlich ihre Geistlichen, die ihnen anhangenden Leute zur
Achtung vor der Person und dem Eigenthum ihrer Mitbürger erziehen.




sie schelten eine bestimmte Commission, die im Schlosse zu I, wahrscheinlich
in der Lage gewesen wäre, Herrn Ganier vor seiner Heldenthat zu verhaften,
die sich aber nicht berechtigt hielt, den herbeigeholten Schlossermeister zu zwin¬
gen, daß er eine verschlossn« Zimmerthüre öffne, da er aus Furcht vor der
Rache seiner Stammesgenossen sich dessen weigerte.

Die wenigsten unserer Haussuchungen, Patrouillen u. s. w. werden sich
vor dem formalen Rechte vertheidigen lassen, aber bei der Art, wie die National¬
regierung übergreift, bei der von den geistlichen und adligen Agitatoren aus¬
gehenden Demoralisation, stehen wir ja auch von der andern Seite in einem
factischen Ausnahmezustände. Denken Sie doch, was wir erlebt haben und
noch täglich erleben. Da klagt eine Witwe, Edelfrau, ihrem Seelsorger, daß
die Nationalregierung ihren Sohn zum Zuzüge zwingen wolle; sie aber werde
ihn, den einzigen Verwalter ihres Gutes, nicht lassen. Der fromme Mann
erwidert: „Dann werde ich Sie bei der Nationalregierung verklagen" und der
Jüngling geht. — Dort wird ein Mann von drei andern wirklich gezwungen,
sich an Ganiers Zuge zu betheiligen. — Fälle von hohler Prahlerei, bestimmt
zu ängstigen, offenbare Rohheiten fehlen nickt. Es war an einem Junimorgen,
daß eine deutsche Witwe mit ihrer Tochter und ihrem fertig polnisch redenden
Sohne einen Gasthof aufsuchte. Ihre Trauerkleidung veranlaßte einen jungen
Polen, sie für die Seinigen zu halten; er zeigte dem Jüngling einen Strick
und gab ihm den besten Commentar zur Hieroglyphenschrift, als eine unvor¬
sichtige deutsche Aeußerung der Mutter den Fremden warnte und zu schleuniger
Flucht veranlaßte. — In demselben Gasthof treten zwei Männer einen dritten,
mit dem sie wegen seiner nationalen Lauheit gespannt sind, an, bieten ihm
jeder eine Hand zur Versöhnung, und da er einschlägt, fällt die Schlinge über
seinen Hals; den hat seine Körperkraft gerettet. Jenen Gensdarmen, der beim
Jahrmarkt überfallen und an seinem Leben ernstlich bedroht war, befreite erst
die Militärpatrouille.

Natürlich fragt man sich, was würde ohne die starke Besatzung aus unsern
Grenzkreisen? wie weit kämen wir, wenn alle und jede Form streng gewahrt
würde? Weil aber auch die leiseste Rechtsüberschreitung das Gefühl der Un¬
sicherheit gibt, sehnen wir uns bisweilen darnach, daß auch die Ausnahmen
normirt würden, und so kommt es, daß auch unsere Behörden sich ab und zu
die Frage stellen, ob wohl gewisse Maßregeln geboten seien. Freuen wir uns,
daß sie sich dieselbe bisher stets verneinend beantwortet haben, und geben wir
uns der Hoffnung hin, daß unsere polnischen Mitbürger, welches auch sonst
ihre Schritte seien, sich selbst innerhalb der Grenzen unserer Gesetze halten,
und daß sie, namentlich ihre Geistlichen, die ihnen anhangenden Leute zur
Achtung vor der Person und dem Eigenthum ihrer Mitbürger erziehen.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0322" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115714"/>
          <p xml:id="ID_880" prev="#ID_879"> sie schelten eine bestimmte Commission, die im Schlosse zu I, wahrscheinlich<lb/>
in der Lage gewesen wäre, Herrn Ganier vor seiner Heldenthat zu verhaften,<lb/>
die sich aber nicht berechtigt hielt, den herbeigeholten Schlossermeister zu zwin¬<lb/>
gen, daß er eine verschlossn« Zimmerthüre öffne, da er aus Furcht vor der<lb/>
Rache seiner Stammesgenossen sich dessen weigerte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_881"> Die wenigsten unserer Haussuchungen, Patrouillen u. s. w. werden sich<lb/>
vor dem formalen Rechte vertheidigen lassen, aber bei der Art, wie die National¬<lb/>
regierung übergreift, bei der von den geistlichen und adligen Agitatoren aus¬<lb/>
gehenden Demoralisation, stehen wir ja auch von der andern Seite in einem<lb/>
factischen Ausnahmezustände. Denken Sie doch, was wir erlebt haben und<lb/>
noch täglich erleben. Da klagt eine Witwe, Edelfrau, ihrem Seelsorger, daß<lb/>
die Nationalregierung ihren Sohn zum Zuzüge zwingen wolle; sie aber werde<lb/>
ihn, den einzigen Verwalter ihres Gutes, nicht lassen. Der fromme Mann<lb/>
erwidert: &#x201E;Dann werde ich Sie bei der Nationalregierung verklagen" und der<lb/>
Jüngling geht. &#x2014; Dort wird ein Mann von drei andern wirklich gezwungen,<lb/>
sich an Ganiers Zuge zu betheiligen. &#x2014; Fälle von hohler Prahlerei, bestimmt<lb/>
zu ängstigen, offenbare Rohheiten fehlen nickt. Es war an einem Junimorgen,<lb/>
daß eine deutsche Witwe mit ihrer Tochter und ihrem fertig polnisch redenden<lb/>
Sohne einen Gasthof aufsuchte. Ihre Trauerkleidung veranlaßte einen jungen<lb/>
Polen, sie für die Seinigen zu halten; er zeigte dem Jüngling einen Strick<lb/>
und gab ihm den besten Commentar zur Hieroglyphenschrift, als eine unvor¬<lb/>
sichtige deutsche Aeußerung der Mutter den Fremden warnte und zu schleuniger<lb/>
Flucht veranlaßte. &#x2014; In demselben Gasthof treten zwei Männer einen dritten,<lb/>
mit dem sie wegen seiner nationalen Lauheit gespannt sind, an, bieten ihm<lb/>
jeder eine Hand zur Versöhnung, und da er einschlägt, fällt die Schlinge über<lb/>
seinen Hals; den hat seine Körperkraft gerettet. Jenen Gensdarmen, der beim<lb/>
Jahrmarkt überfallen und an seinem Leben ernstlich bedroht war, befreite erst<lb/>
die Militärpatrouille.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_882"> Natürlich fragt man sich, was würde ohne die starke Besatzung aus unsern<lb/>
Grenzkreisen? wie weit kämen wir, wenn alle und jede Form streng gewahrt<lb/>
würde? Weil aber auch die leiseste Rechtsüberschreitung das Gefühl der Un¬<lb/>
sicherheit gibt, sehnen wir uns bisweilen darnach, daß auch die Ausnahmen<lb/>
normirt würden, und so kommt es, daß auch unsere Behörden sich ab und zu<lb/>
die Frage stellen, ob wohl gewisse Maßregeln geboten seien. Freuen wir uns,<lb/>
daß sie sich dieselbe bisher stets verneinend beantwortet haben, und geben wir<lb/>
uns der Hoffnung hin, daß unsere polnischen Mitbürger, welches auch sonst<lb/>
ihre Schritte seien, sich selbst innerhalb der Grenzen unserer Gesetze halten,<lb/>
und daß sie, namentlich ihre Geistlichen, die ihnen anhangenden Leute zur<lb/>
Achtung vor der Person und dem Eigenthum ihrer Mitbürger erziehen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0322] sie schelten eine bestimmte Commission, die im Schlosse zu I, wahrscheinlich in der Lage gewesen wäre, Herrn Ganier vor seiner Heldenthat zu verhaften, die sich aber nicht berechtigt hielt, den herbeigeholten Schlossermeister zu zwin¬ gen, daß er eine verschlossn« Zimmerthüre öffne, da er aus Furcht vor der Rache seiner Stammesgenossen sich dessen weigerte. Die wenigsten unserer Haussuchungen, Patrouillen u. s. w. werden sich vor dem formalen Rechte vertheidigen lassen, aber bei der Art, wie die National¬ regierung übergreift, bei der von den geistlichen und adligen Agitatoren aus¬ gehenden Demoralisation, stehen wir ja auch von der andern Seite in einem factischen Ausnahmezustände. Denken Sie doch, was wir erlebt haben und noch täglich erleben. Da klagt eine Witwe, Edelfrau, ihrem Seelsorger, daß die Nationalregierung ihren Sohn zum Zuzüge zwingen wolle; sie aber werde ihn, den einzigen Verwalter ihres Gutes, nicht lassen. Der fromme Mann erwidert: „Dann werde ich Sie bei der Nationalregierung verklagen" und der Jüngling geht. — Dort wird ein Mann von drei andern wirklich gezwungen, sich an Ganiers Zuge zu betheiligen. — Fälle von hohler Prahlerei, bestimmt zu ängstigen, offenbare Rohheiten fehlen nickt. Es war an einem Junimorgen, daß eine deutsche Witwe mit ihrer Tochter und ihrem fertig polnisch redenden Sohne einen Gasthof aufsuchte. Ihre Trauerkleidung veranlaßte einen jungen Polen, sie für die Seinigen zu halten; er zeigte dem Jüngling einen Strick und gab ihm den besten Commentar zur Hieroglyphenschrift, als eine unvor¬ sichtige deutsche Aeußerung der Mutter den Fremden warnte und zu schleuniger Flucht veranlaßte. — In demselben Gasthof treten zwei Männer einen dritten, mit dem sie wegen seiner nationalen Lauheit gespannt sind, an, bieten ihm jeder eine Hand zur Versöhnung, und da er einschlägt, fällt die Schlinge über seinen Hals; den hat seine Körperkraft gerettet. Jenen Gensdarmen, der beim Jahrmarkt überfallen und an seinem Leben ernstlich bedroht war, befreite erst die Militärpatrouille. Natürlich fragt man sich, was würde ohne die starke Besatzung aus unsern Grenzkreisen? wie weit kämen wir, wenn alle und jede Form streng gewahrt würde? Weil aber auch die leiseste Rechtsüberschreitung das Gefühl der Un¬ sicherheit gibt, sehnen wir uns bisweilen darnach, daß auch die Ausnahmen normirt würden, und so kommt es, daß auch unsere Behörden sich ab und zu die Frage stellen, ob wohl gewisse Maßregeln geboten seien. Freuen wir uns, daß sie sich dieselbe bisher stets verneinend beantwortet haben, und geben wir uns der Hoffnung hin, daß unsere polnischen Mitbürger, welches auch sonst ihre Schritte seien, sich selbst innerhalb der Grenzen unserer Gesetze halten, und daß sie, namentlich ihre Geistlichen, die ihnen anhangenden Leute zur Achtung vor der Person und dem Eigenthum ihrer Mitbürger erziehen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/322
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/322>, abgerufen am 15.05.2024.